Folgen eines Schweigens

Kindesmissbrauch: Chronologie eines Behördenversagens

Sexualverbrechen. Ein Vater missbraucht sein Baby. Chronologie eines Behördenversagens

Drucken

Schriftgröße

Nur das mit wohligem Gruseln beschriebene "Sex-Monster“ fehlte. Ansonsten ließen die Abgeordneten vergangenen Mittwoch im Parlament kaum ein Gräuelbild aus: BZÖ-Raubein Peter Westenthaler urgierte lebenslange Haft für "Subjekte, die sich an unseren Kindern vergehen“, Christoph Hagen forderte für das Team Stronach eine "Meldepflicht für entlassene Sexualstraftäter“. Die Reden der Regierungsparteien fielen im Ton moderater aus, in der Sache waren aber auch sie auf unerbittlichem Kurs - so wurden einstimmig höhere Strafen für Sexualstraftäter beschlossen.

Wieder einmal.

„Hexenjagd auf Sexualstraftäter“
Die letzte Verschärfung des Sexualstrafrechts ist erst ein halbes Jahr her. Höhere Strafen für Kinderschänder & Co. sind ein Lieblingsaufmarschgebiet der Politik, selbst die glücklose Justizministerin Claudia Bandion-Ortner brachte ein einschlägiges Gesetzespaket zustande. Kühl-rationale Köpfe wie Klaus Schwaighofer, Professor für Strafrecht an der Universität Innsbruck, bezeichnen das ständige Hinauflizitieren der Strafen mittlerweile als "Hexenjagd auf Sexualstraftäter“. Auf Sexualkriminalität entfallen zwar im Durchschnitt lediglich zwei Prozent aller Verurteilungen - sie erlangen aber wesentlich mehr als zwei Prozent der Aufmerksamkeit. Im öffentlichen Erregungspegel wurzelt wohl auch der wiederkehrende Ruf nach höheren Strafen.

Das Problem ist bloß: Am Strafausmaß hapert es in Österreich nicht. Die internationalen Vorgaben, besonders bei sexueller Ausbeutung von Minderjährigen, werden schon jetzt übertroffen. Andere Herausforderungen wären dringlicher. Zum Beispiel das Zusammenspiel von Polizei, Gerichten und Jugendämtern, das allen Diskussionen zum Trotz nicht einmal ansatzweise funktioniert.

„Chronischer Missbrauch”
Ein besonders tragisches Beispiel dafür ist der Fall von Yvonne K.*, geboren im April 2010. Als sie ihr Vater Ernst K.* das erste Mal sexuell missbraucht, ist sie noch keine sechs Monate alt, als ihr Vater verhaftet wird, ist sie zwei Jahre und drei Monate und hat derart schwere vaginale und anale Verletzungen, dass sie unter anderem bis heute keinen Stuhl halten kann. "Chronischer Missbrauch, vaginale und anale Penetrationen“, beschreibt die Justiz das Martyrium von Yvonne K. Zumindest neun Monate davon hätte ihr die Staatsanwaltschaft St. Pölten ersparen können - wenn sie nicht ausdrücklich darauf bestanden hätte, das Jugendamt nicht zu informieren. Und auch der Mutter von Yvonne nichts vom schwerwiegenden Verdacht gegen Ernst K. zu sagen. Diese Vorgangsweise der Staatsanwaltschaft ist insofern besonders unverständlich, als Ernst K. den Missbrauch an anderen Mädchen bereits gestanden hatte.

Doch der Reihe nach: die Chronologie eines Behördenversagens, dokumentiert anhand von Polizei- und Gerichtsdokumenten, die profil vorliegen.

Am 24. August 2011 bringt die Jus-Studentin Sabine F. mit Unterstützung ihres Anwalts Christoph Naske eine Sachverhaltsdarstellung bei der Staatsanwaltschaft St. Pölten ein. Die damals 22-Jährige behauptet, von ihrem Onkel Ernst K. als Kleinkind sexuell missbraucht worden zu sein, konkret in den Jahren 1993 bis 1995. Das ist ein Muster, das bei Sexualdelikten typisch ist: Häufig kommt es erst Jahre oder nach Jahrzehnte nach den mutmaßlichen Übergriffen zu einer Anzeige, was die Beweislage extrem erschwert. Sabine F. geht es aber gar nicht um späte Gerechtigkeit für sie selbst: Sie nennt als Grund ihrer Anzeige, sie habe zufällig erfahren, dass ihr Onkel mittlerweile Vater einer Tochter wurde und sie "nicht will, dass ihr das auch passiert“.

Dennoch lassen sich die Behörden Zeit. Erst zwei Monate nach der Anzeige, am 28. Oktober 2011, wird Sabine F. als Zeugin einvernommen. Sie erzählt, dass sie als Kind immer wieder in der Wohnung ihrer Großmutter in St. Pölten gewohnt hatte, gemeinsam mit ihrer Mutter und deren Bruder Ernst K. Er war damals 19 und Zeitsoldat beim Bundesheer. Ab dem Sommer 1993 missbrauchte er die damals Vierjährige regelmäßig. Mit der Einschulung in Wien hörten die Übergriffe auf, für Sabine F. folgten Bulimie, Alkohol- und Drogenprobleme. "Mir fällt es schwer, die sexuellen Übergriffe zu schildern“, sagt Sabine F. bei der Polizei aus. Und fügt hinzu: "Ich habe Angst, dass mein Onkel auch Übergriffe auf seine Tochter begeht, das war ein wesentlicher Grund für meine Anzeige. Ich möchte, dass nach Möglichkeit das Jugendamt informiert wird.“

Wenige Tage später, am 3. November 2011, wird der Onkel, Ernst K., von der Polizei St. Pölten einvernommen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt beginnen bei vielen Sexualdelikten die Schwierigkeiten: Meist gibt es keine Zeugen für die angeblichen Taten, häufig steht Aussage gegen Aussage und gerade in kniffligen Scheidungs- oder Obsorgeverfahren wird immer wieder jemand zu Unrecht beschuldigt. Die Frage "Wem glauben?“ gerät oft zur Gratwanderung.

Im Fall Ernst K. stellen sich alle diese Fragen nicht. Er gesteht sofort und detailliert den Missbrauch an seiner Nichte Sabine F. Schildert, wie "der ganze Blödsinn angefangen“ hat, dass "es schon so zirka eineinhalb Jahre gegangen ist“ und fügt hinzu: "Ich habe angenommen, dass es auch F. gefällt.“

Ernst K. hat fünf Geschwister, aufgewachsen ist er nur mit einem Bruder, meist bei der Mutter, zwischendurch im Heim, hat eine Automechanikerlehre abgebrochen und neben seinen drei Jahren beim Bundesheer diverse Gelegenheitsarbeiten am Bau vorzuweisen. Zum Zeitpunkt seiner Vernehmung ist er arbeitslos. Er gesteht bei seiner Einvernahme sogar mehr, als er gefragt wird - und bringt ein weiteres mögliches Opfer, die Schwester von Sabine F., ins Spiel. Nur sexuelle Übergriffe auf seine Tochter bestreitet er. Yvonne K. ist damals eineinhalb Jahre alt.

Rund ein Monat später ist der Abschlussbericht der Polizei wegen des Verdachts des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen fertig. Auch in diesem Bericht an die Staatsanwaltschaft St. Pölten, datiert vom 7. Dezember 2011, wird neuerlich ausdrücklich erwähnt, dass die Sorge von Sabine F. um die Tochter ein wesentlicher Grund für die Anzeige war und Sabine F. eine Verständigung der Jugendwohlfahrt möchte. Darunter heißt es lapidar: "Nach Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft wurde/wird keine Verständigung des Magistrats der Stadt St. Pölten, Jugendwohlfahrt, durchgeführt.“

Eine Begründung dafür fehlt im Bericht.

Der Sprecher des Polizei St. Pölten will heute nichts mehr dazu sagen und verweist an die Staatsanwaltschaft St. Pölten.

Deren Sprecherin, Michaela Obenaus, sagt vorweg, dass ihr "in zehn Jahren ein derart tragischer Fall mit derart jungen Opfern nicht untergekommen ist“. Und sie verteidigt in perfektem Behördensprech den Verlauf der Amtshandlung und die Tatsache, dass das Jugendamt nicht verständigt wurde: "Das Ermittlungsverfahren war nicht abgeschlossen. Es gab keinen konkreten Tatverdacht in Richtung der Tochter. Wir mussten erst die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens abwarten.“

Monate verstreichen. Die Beziehung zwischen Ernst K. und der Mutter von Yvonne scheitert. Yvonne bleibt regelmäßig tagelang alleine bei ihrem Vater. Der Missbrauch intensiviert sich.

Im April 2012 wird sie zwei Jahre alt.

Am 14. Mai 2012 taucht ein weiteres potenzielles Opfer auf, die Tochter einer früheren Lebensgefährtin von Ernst K. Sie stellt ihn in einem Facebook-Chat wegen angeblichen Missbrauchs im Jahr 2007 zur Rede.

Erst im Juli 2012 kommt Tempo ins Ermittlungsverfahren. Nach dem Sexualkundeunterricht in der Schule erzählt ein weiteres Mädchen ihrer Großmutter, dass sie in den Jahren 2004 und 2005 als Zweijährige von Ernst K., seinerzeit mit ihrer Mutter liiert, missbraucht worden sei. Damit liegt eine weitere Anzeige bei der Polizei St. Pölten.

Am 19. Juli 2012 durchsucht die Polizei Ernst K.s Wohnung. Sie findet unter anderem Aufnahmen, die ihn beim Missbrauch seiner Tochter zeigen, die ersten datiert mit 4. Oktober 2010, die letzten vom 13. 7. 2012 - also fast neun Monate nach seinem ersten Geständnis. Die Aufnahmen sind erdrückende Beweise, Ernst K. kommt sofort in U-Haft und wird heuer im Mai zu 14 Jahren Haft verurteilt.

Dass weder Staatsanwaltschaft noch Polizei rechtzeitig Jugendamt oder Mutter verständigt haben, wird im Prozess nicht thematisiert.

Keine Frage: Die Unschuldsvermutung ist ein hehres Prinzip, das nicht gebrochen werden darf. Bloß: Zum Schutz eines Kleinkindes das Jugendamt zu informieren, bedeutet noch keine Vorverurteilung. Hätten die Behörden Yvonne K. zumindest vor dem Missbrauch zwischen November 2011 und Juli 2012 schützen können?

Die Staatsanwaltschaft St. Pölten beantwortet diese Frage auch heute mit Nein und kann keine Fehler erkennen: "Die Vorwürfe waren massiv, es galt sensibel zu agieren“, sagt Sprecherin Obenaus.

„Wir kennen den Fall nicht.”
Das Justizministerium weiß zu sagen: Seit dem Jahr 2004 ist via Erlass geregelt, dass Gerichte und andere Behörden das Jugendamt zu verständigen haben. Zusatz: Ein Zeitpunkt für die Verständigung der Jugendwohlfahrt ist nicht festgelegt. Ob die Staatsanwaltschaft in St. Pölten richtig gehandelt hat oder nicht, will man im Justizministerium nicht beurteilen: "Wir kennen den Fall nicht, kommentieren ihn daher nicht.“

Diese Nicht-Antwort wird nicht reichen.

„Totalversagen der Behörden”
Der Grüne Justizsprecher Albert Steinhauser wird eine parlamentarische Anfrage an Justizministerin Beatrix Karl einbringen, in der das "Totalversagen der Behörden“ ausführlich hinterfragt wird. Karl wird unter anderem zu beantworten haben, ob es Konsequenzen für den Staatsanwalt geben wird und ob sie regeln wird, wann das Jugendamt zu verständigen ist. Steinhauser: "Ich erwarte mir vom Justizministerium, dass es den Fall aufklärt. Die Politik kann sich nicht immer nur mit der Strafhöhe für Sexualstraftäter beschäftigen, viel wichtiger wäre, dass die Behörden richtig reagieren.“

Die Verschärfung des Sexualstrafrechts ist seit vergangenen Mittwoch beschlossen.

Yvonne K. ist heute drei Jahre und zwei Monate alt. Sie lebt mit ihrer Mutter in Deutschland. Ob sie körperlich je wieder gesund wird, ist fraglich.

Von den psychischen Verletzungen ganz zu schweigen.


Der Autorin auf Twitter folgen

@evalinsinger folgen // !function(d,s,id){var js,fjs=d.getElementsByTagName(s)[0];if(!d.getElementById(id)){js=d.createElement(s);js.id=id;js.src="//platform.twitter.com/widgets.js";fjs.parentNode.insertBefore(js,fjs);}}(document,"script","twitter-wjs"); // * Namen der Opfer und des Täters von der Redaktion geändert

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin