Sexueller Missbrauch

Sexueller Missbrauch: Sündenregister

Sündenregister

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Anfang der sechziger Jahre, als der Religionslehrer Hans Groer am bischöflichen Knabenseminar in Hollabrunn zum Priester geweiht wurde, könnte es angefangen haben. Dreißig Jahre später geben ehemalige Zöglinge aus der schwierigen Zeit ihrer Pubertät zu Protokoll, dass sie vom Lehrer genötigt wurden, sich vor ihm auszuziehen, dass er sie unterwiesen habe, wie man sich richtig wäscht, dass er sie eigenhändig eingeseift und ihnen über ihre Genitalien gestrichen habe. Auch Zungenküsse habe er versucht. 1985 wurden die Kirchenoberen informiert. Ein Jahr darauf war Groer Erzbischof von Wien. Erst zehn Jahre später, als ein ehemaliger Schüler Groers in profil über seine traumatischen Erlebnisse sprach und sich weitere Opfer meldeten, wurde die Angelegenheit von der Kirche ernst genommen. Im vergangenen März ist Groer gestorben – ohne zu verstehen, dass er sie missbraucht habe, sagen ehemalige Schüler,
die noch das Gespräch mit ihm gesucht hatten.
Vor der Affäre Groer wurde nur vereinzelt über derartige Vorkommnisse berichtet. 1969 kam der Fall eines anerkannt feschen und beliebten Pfarrers in der burgenländischen Gemeinde Lackenbach in die Zeitungen, der einen 14-Jährigen auf ein Hotelzimmer geschleppt hatte. „Der Teufel“ habe von ihm „Besitz ergriffen“, rechtfertigte sich der Pfarrer. Die Familie, die zur Polizei gegangen war, hatte danach in der Gemeinde kein leichtes Leben.

In den achtziger Jahren verständigten Badegäste in einem Strandbad am Mondsee die Gendarmerie, nachdem der allseits bekannte Pfarrer von Bad Goisern einen 13-Jährigen heftig liebkost hatte und ihn dann in die Umkleidekabine bugsieren wollte. 1990 ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen einen steirischen Landpfarrer, der Schulbuben auf dem Heimweg abpasste und sich vor ihnen entblößte. 1991 entdeckte eine Mutter aus Korneuburg bei ihrem Zwölfjährigen Briefe des Pfarrers, in denen dieser seine sexuellen Wünsche zu Papier gebracht hatte. Sie verständigte die Polizei.

Nach dem Fall Groer häuften sich die Berichte. Immer mehr Familien und ehemalige Opfer fühlten sich ermutigt, an die Öffentlichkeit zu gehen. Eine junge Frau, die als Zwölfjährige von einem Pfarrer in Niederösterreich auf den Schoß genommen, ausgezogen und gestreichelt wurde, erzählte ihren Eltern nach den Zeitungsartikeln von ihren eigenen Erlebnissen. Der Pfarrer rechtfertigte sich damit, sie wäre schon ganz entwickelt gewesen und hätte „eh ganz brav mitgetan“.

Ein Pfarrer aus Salzburg gestand von sich aus – „weil es so wie im Fall Groer nicht weitergehen kann“ –, dass er vor 30 Jahren einen Schüler sexuell missbraucht hatte. 1997 wurde ein Pfarrer in Pottenstein suspendiert, nachdem in der Erzdiözese anonyme Hinweise über sexuellen Missbrauch an Buben eingegangen waren. Die Vorfälle aus den sechziger Jahren waren bereits verjährt.

1999 wurde in Wien-Favoriten der Pfarrer von den Gemeindemitgliedern wegen Sexspielen mit Minderjährigen angezeigt. Im selben Jahr beobachtete eine Pflegerin im Wiener Spital Haus der Barmherzigkeit, wie ein uralter Seelsorger einem geistig behinderten jungen Mann an die Genitalien griff. Sie meldete es der Spitalsleitung. „Mein Gott“, sagte Kardinal Christoph Schönborn in einem ORF-Interview, „das kann doch passieren.“

Ein Ordensbruder des Klosters Seitenstetten ging 2002 selbst zur Polizei, nachdem sich eines seiner Opfer bei der kirchlichen Ombudsstelle für sexuellen Missbrauch gemeldet hatte.

Offenbar braucht es die Öffentlichkeit, um Missstände zu ändern. In den USA wurden im vergangenen Jahr 250 Priester suspendiert. Vier Bischöfe, die sexuellen Missbrauch in ihren Reihen toleriert, den Familien der Opfer Millionen Dollar an Schweigegeld gezahlt und die Täter von einer Gemeinde in die andere versetzt hatten, sind bisher zurückgetreten, darunter der höchste katholische Würdenträger der USA, der Bostoner Kardinal Bernard Law. Sein Nachfolger O’Malley steht wegen Schadenersatzforderungen vor dem Konkurs. Durch einen Priester in Boston, der 230 Kinder sexuell missbraucht haben soll, war eine Lawine ins Rollen gekommen. Nach und nach meldeten sich hunderte Opfer, die als Kinder vergewaltigt, zu Oralverkehr und Sexspielen vor der Kamera genötigt worden waren.

In Australien gerieten vor acht Jahren katholische Ordensschulen in Verruf, ihre Zöglinge massenhaft geschändet zu haben. Im Vorjahr entschuldigten sich die australischen Bischöfe öffentlich und sprachen vom „ersten Schritt zur Heilung“. In Deutschland wurden im vergangenen Jahr dutzende neue Fälle bekannt. „Nüchtern betrachtet“, sagte der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, müsse man „wohl mit weiteren Enthüllungen dieser Art rechnen“.

In Belgien wurden Bischöfe angezeigt, weil sie dem Treiben mancher Priester tatenlos zugesehen hatten. In Polen musste vor einem Jahr der Posener Erzbischof und Vertraute des Papstes zurücktreten. Junge Geistliche waren mit Berichten über sexuelle Übergriffe an die Öffentlichkeit gegangen. Verfahren gab es jedoch keines. Ein Pfarrer, der in Nordirland wegen Missbrauch an Minderjährigen vier Jahre inhaftiert gewesen war, wurde erst Jahre später in Irland, als über neuerliche Verfehlungen geschrieben wurde, suspendiert. Von 1994 bis 1998 wurden in 24 afrikanischen Staaten Nonnen vor allem von Benediktinern vergewaltigt. Notker Wolf, Oberer des Benediktinerordens sagte dazu, die westliche Sensibilität sei eben sehr hoch, deshalb könnten sexuelle Verfehlungen in Afrika „falsch eingeschätzt“ werden.