NRW 2008: Sieger sehen anders aus

Sieger sehen anders aus - Nummer 1 trotz schlechtestem Wahlergebnis der Geschichte

Werner Faymann auf großer Partnersuche

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29,7 Prozent hat Faymann erreicht – um sechs Prozentpunkte weniger, als es für Alfred Gusenbauer an jenem denkwürdigen 1. Oktober 2006 waren. Faymann war kein schlechter Wahlkämpfer, aber mehr als drei oder vier Prozentpunkte hatte er nach dem absoluten Tiefpunkt, Anfang Juli, nicht mehr aufgeholt – daran konnten auch die ranzigen Verherrlichungsverse der „Kronen Zeitung“ nichts ändern.
Werner Faymann war Sonntag erst spät ins Festzelt gekommen. Er hatte am Nachmittag Kontakt mit Vertrauten in der ÖVP gesucht, um auszuloten, ob sich dort schon personelle Veränderungen abzeichnen. Faymann will mit Josef Pröll über eine neue Regierung verhandeln, sein Verhältnis zu Wilhelm Molterer ist nach diesem Wahlkampf irreparabel.
Schon zwei Wochen vor der Wahl hat der innerste Kreis der SPÖ einen Geheimplan für die Vorgangsweise nach den Wahlen festgelegt:
Faymann wird in der zweiten Oktoberwoche vom Bundespräsidenten den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten. Danach will er umgehend die ÖVP zu Regierungsverhandlungen über die Bildung einer großen Koalition einladen, wobei die SPÖ-Präsiden davon ausgehen, dass das schwarze Führungsduo Molterer/Schüssel zu diesem Zeitpunkt bereits entmachtet und durch Josef Pröll ersetzt sein wird. Parallelverhandlungen mit anderen Parteien sind im roten Aufmarschplan nicht vorgesehen: Rot-Grün ist von einer Mehrheit ohnehin weit entfernt, und eine Variante mit Rot-Blau kommt nach den wiederholten Faymann-Festlegungen für die SPÖ nicht infrage, will sie nicht schon wieder als Umfaller-Partei in eine Legislaturperiode starten.
Die Koalitionsgespräche mit der ÖVP sollen allerdings, so das geheime SPÖ-Konzept, zeitlich limitiert sein. Nach rund einem Monat will die SPÖ entscheiden, ob es einen Sinn macht weiterzuverhandeln – oder eben nicht.
Sollte die ÖVP auf zentrale SPÖ-Forderungen nicht eingehen, wollen die Sozialdemokraten mit Grünen, BZÖ und FPÖ Gespräche über die vorübergehende Duldung einer Minderheitsregierung aufnehmen: Der Fehler aus dem Jahr 2006, das Fenster für eine Minderheitsregierung zu versäumen, soll sich nicht wiederholen.

Rochaden. Auch personell will sich die SPÖ diesmal durchsetzen und das Finanzministerium zurückgewinnen. Faymanns Wunschkandidatin für das Amt ist die bisherige Bildungsministerin und ehemalige Bankerin Claudia Schmied. Sozialminister Erwin Buchinger wird durch einen Gewerkschafter ersetzt werden. Das Außenministerium ist nicht Ziel-1-Gebiet der SPÖ. Sollte es ihr doch zufallen, ist einer ganz sicher nicht im Rennen: der bisherige Kanzler Alfred Gusenbauer. Dass er Außenminister werden könnte, behauptet bloß die ÖVP – in der SPÖ wird das ausgeschlossen. Ein anderer aus der Ära Gusenbauer scheint aber an Bord zu bleiben: Dem ebenfalls auf Faymanns Abschussliste gewähnten Klubobmann Josef Cap wurde schon vor der Wahl signalisiert, er solle sich weiter bereithalten.
Die SPÖ war trotz der ungünstigen Startbedingungen fast den gesamten Wahlkampf über vom Verbleib an der Spitze überzeugt gewesen – vor allem deshalb, weil die Umfragedaten der ÖVP von Woche zu Woche düsterer wurden. „Jetzt wirst du Kanzler“, tippte Ex-Frauenministerin Johanna Dohnal vergangenen Dienstagabend in ihr Handy und schickte das SMS an Werner Faymann. Der SPÖ-Spitzenkandidat hatte im ORF-Kanzlerduell eben ÖVP-Vizekanzler Wilhelm Molterer – für Faymann’sche Verhältnisse – hart angegriffen.
Der Fernsehauftritt war pures Stammwählerprogramm. Mit Attacken verschreckt man Unentschlossene und stößt Wechselwähler ab – der eigenen Stammklientel kann es nicht scharf genug hergehen. „Die zu wenig scharfe Reaktion auf die Angriffe der ÖVP gefällt dem eigenen harten Kern nicht“, mahnte SPÖ-Seniorenchef Karl Blecha, Gründer und Miteigentümer des Meinungsforschungsinstituts Ifes. Entsprechend steigerte Faymann in den letzten ORF-Auftritten seinen Aggressionslevel.
Zu lange hatte er die Samtpfote gemacht, den Lächler, der sich mit niemandem anlegen will, Everybody’s Darling. Im Februar hatte es der Infrastrukturminister und Koalitionskoordinator fast zu weit getrieben. Die gesamte SPÖ – inklusive Kanzler Gusenbauer – war damals in der Affäre um den parteipolitischen Missbrauch des Innenministeriums auf harten Konfrontationskurs mit der ÖVP gegangen und hatte mit der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses auch Taten folgen lassen. Nur Faymann wiegelte ab: In einer gemeinsamen Erklärung mit seinem schwarzen Koordinations-Visavis Josef Pröll empfahl er, „den andauernden, ermüdenden und ziellosen Politstreit“ endlich zu beenden und wieder zur Arbeit zurückzukehren.
In der SPÖ wurde Faymanns Beschwichtigungskurs selbst von Parteigranden als Verrat gewertet. Der Aufruf sei „unverständlich“, meinte Nationalratspräsidentin Barbara Prammer. Jeder Minister könne seiner Sacharbeit nachgehen, „es hätte da sicher keiner Aufforderung bedurft“, gab Justizministerin Maria Berger zu Protokoll.
Freilich: Mit dieser Initiative hatte Faymann erstmals, wenn auch noch auf sehr leisen Pfoten, einen Führungsanspruch in der SPÖ angemeldet, und das just zu einem Zeitpunkt, zu dem Kanzler Alfred Gusenbauer mit seinem Latein am Ende schien.
Einen Befreiungsschlag versuchte der Kanzler noch, als er Ende Februar in der TV-„Pressestunde“ vom Koalitionspartner ultimativ ein Vorziehen der Steuerreform auf 2009, die Gesundheitsreform und die Einführung einer Kapitalzuwachssteuer forderte.
Nichts von all dem kam zustande.
Als Gusenbauer sein letztes Pulver verschossen hatte, wurden die roten Granden zunehmend nervös: Innerhalb von sechs Monaten waren die Umfragewerte von 36 auf 30 Prozent gefallen. Mit Gusenbauer an der Spitze, das war allen klar, waren Wahlen kaum zu gewinnen.
Am 17. März veröffentlichte profil Dokumente aus einem geheimen Wahlkampfkonzept der ÖVP. Daraus ging hervor, dass der Kreis um Parteiobmann Wilhelm Molterer und Wolfgang Schüssel ohne Wissen des Lagers um „Kronprinz“ Josef Pröll überfallsartig Wahlen für 1. Juni ansetzen und die SPÖ damit am falschen Fuß erwischen wollte. Alles war bis ins Detail geplant, sogar die Plakatfotos mit Molterer waren bereits geschossen, als die Veröffentlichung in profil den Plan in sich zusammenfallen ließ.
In der SPÖ herrschte nun schrille Aufregung: Die ÖVP konnte jederzeit wieder die Wahl-Karte ziehen. Man musste Gusenbauer zum Rücktritt bewegen, aber wer sollte es ihm sagen? Gusenbauer kam seinem Präsidium zuvor und schlug Ende Juni überfallsartig Werner Faymann als Parteiobmann vor – er selbst wolle Kanzler bleiben.
Die Doppelspitze war für die Granden die schlechteste aller Varianten. Noch schlimmer wurde es, als Faymann und Gusenbauer – ohne Befassung der Gremien – in einem Unterwerfungsbrief an „Krone“-Herausgeber Hans Dichand die Linie in der EU-Frage völlig änderten. Erst wenige Wochen vorher hatten die Sozialdemokraten im Nationalrat wortreich argumentiert, warum für die Ratifizierung von EU-Verträgen das Parlament zuständig sei – jetzt waren Faymann und Gusenbauer plötzlich für Volksabstimmungen. Und das an der Seite jener Zeitung, die sich in hysterische EU-Phobie gesteigert hatte. Zuletzt war das Blatt sogar auf die Ente eines Spaßvogels hereingefallen, der verbreitet hatte, laut EU müssten jetzt die Würstelstände mit Kundentoiletten ausgestattet werden.

Anbiederung. Selbst der zurückhaltende Ex-Kanzler Franz Vranitzky äußerte nach dem Brief an Dichand in einem „Mittagsjournal“-Interview beißende Kritik: Das sei „vielleicht auch eine Erklärung für die Doppelspitze, weil einem allein ein so kapitaler Missgriff gar nicht gelungen wäre“. Eine Gruppe um Ex-Finanzminister Lacina geißelte in einem offenen Manifest „die würdelose Anbiederung führender Funktionäre an die ,Kronen Zeitung‘“.
Die vom Kurswechsel der SPÖ schwer geschockte ÖVP hielt die Zeit für den Absprung gekommen: „Es reicht!“, erklärte Wilhelm Molterer am 7. Juli und kündigte die Koalition auf. Damit einte er freilich die nach dem „Krone“-Ausritt des Führungsduos schwer irritierte SPÖ, die sich nun binnen Stunden auf Faymann als Spitzenkandidaten festlegte. Umfragestand zu Beginn des Wahlkampfs: 33 ÖVP, 26 SPÖ.
Der neue Spitzenmann der Roten spielte seinen größten Trumpf, eben nicht Alfred Gusenbauer zu sein, an der Basis umgehend aus. Demonstrativ setzte Faymann auf die Versöhnung mit der Gewerkschaft und entschuldigte sich bei Reisen durch die Bundesländer immer wieder für die Fehler der gescheiterten Koalition. Hatte die Volkspartei nach dem Bauchfleck vor „Krone“-Chef Hans Dichand auf die innerparteiliche Opposition in der SPÖ gesetzt, wurde sie spätestens bei dem roten Parteitag enttäuscht: Mit 97 Prozent der Delegiertenstimmen wurde Faymann Ende Juli zum Vorsitzenden gewählt.
Als er dann Ende August, am Beginn der heißen Phase des Wahlkampfs, sein 5-Punkte-Paket vorstellte, erwischte er die ÖVP am falschen Fuß. Man werde demnächst eigene Pläne zur Inflationsbekämpfung vorstellen, vertröstete Finanzminister und Spitzenkandidat Wilhelm Molterer die seinen.
Fortan war der Wahlkampf nur noch vom Thema Inflation beherrscht. Faymann riss damit zwar die thematische Initiative an sich, trug aber auch alle Risken. Sein Paket war inhaltlich nicht unumstritten:

- Die Verlängerung der Hacklerregelung ist zwar im Falle von echten Hacklern, die 45 Arbeitsjahre auf dem Buckel haben, durchaus gerechtfertigt. Allerdings sind 85 Prozent jener, die sie in Anspruch nehmen, gut verdienende Angestellte und Beamte.

- Die Abschaffung der Studiengebühren erfüllt zwar das Wahlversprechen von 2006 – ideologisch begründbar ist sie für Sozialdemokraten kaum: Das Wirtschaftsforschungsinstitut bezeichnete den freien Unizugang taxfrei als Umverteilungsaktion zugunsten der Besserverdienenden, weil vor allem deren Kinder an die Uni gehen. Ein Ausbau des Stipendiensystems sei sozial weit gerechter.

- Und die Halbierung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel mit den grotesken Ausnahmebestimmungen (Stichwort „Wachteleier“) wurde sogar von der Marktwirtschaftspartei ÖVP als Subventionierung der Handelsriesen bezeichnet, weil diese die Verbilligung kaum weitergeben würden. ÖVP-Klubobmann Wolfgang Schüssel in der Nationalratsdebatte: „Glauben Sie wirklich, dass ein Artikel im Geschäft dann auf Dauer nicht mehr 2,99 Euro, sondern 2,91 Euro kosten würde?“ Vor allem aber: Das wenige Tage vor der Wahl beschlossene Paket kostet 2,8 Milliarden, errechneten Wirtschaftsforscher – und das, obwohl die Mehrwertsteuersenkung gar keine Mehrheit gefunden hat.

Dazu kam, dass die SPÖ im Sinne ihres Bauchflecks vor der „Krone“ noch in der letzten Plenarsitzung gemeinsam mit der FPÖ einen Antrag auf verpflichtende Volksabstimmung über geänderte EU-Verträge einbrachte, der allerdings nicht die nötige Zweidrittelmehrheit fand.
Grotesk: Während junge Rote Strache-Kundgebungen mit Sprechchören störten, marschierte ihre Partei im Nationalrat mit der FPÖ im Gleichschritt. Nach der ÖVP, die mit den Freiheitlichen sogar koaliert hatte, hatte jetzt auch die SPÖ die Partei Straches salonfähig gemacht.

Kein Wettlauf. Manche in der SPÖ machten sich denn auch schon am Wahlabend auf die Suche nach den Ursachen für das bescheidene Wahlergebnis. „Wir haben die Auseinandersetzung mit der FPÖ sträflich vernachlässigt“, kritisierte der oberste SPÖ-Gewerkschafter Wilhelm Haberzettl. Die SPÖ dürfe jetzt auch „nicht in den Wettlauf um die Gunst der FPÖ eintreten“, meint denn auch der Wiener Bürgermeister Michael Häupl, der ein weiteres Erstarken der FPÖ in der Bundeshauptstadt befürchtet. Dort hatte Strache mit 21,4 Prozent sein bestes Länderergebnis erreicht.
Die Idee einer SPÖ-Minderheitsregierung mit FPÖ-Unterstützung – sofern sich dies nach der Auszählung der Wahlkarten überhaupt ausgeht – ist deshalb in der Wiener SPÖ nicht populär. Die Wiener Vizebürgermeisterin Renate Brauner: „Das geht nicht, da kommt nicht einmal ein Budget zustande.“
Einige unerwartete Unterstützer zog die SPÖ am Wahlsonntag allerdings an. So fand sich etwa der Grün-Veteran Andreas Wabl im SPÖ-Zelt ein. Seine Frau und er hatten die Stimmen zwischen Rot und Grün gesplittet.
Oben in der SPÖ-Zentrale saß ein Mann einsam im Zimmer von Bundesgeschäftsführerin Doris Bures. Fast auf den Tag genau vor zwei Jahren hatten sie ihn unten im Zelt mit Sprechchören zum Rednerpult getragen. An diesem so ganz anderen Sonntag blieb Alfred Gusenbauer allein.

Von Herbert Lackner und Eva Linsinger