Das Silvio-Mysterium

Silvio-Mysterium: Wahlkampf in Italien

Italien. Warum Silvio Berlusconi die Massen immer noch anzieht

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Francesco Marini steht an der Theke der Bar Angeli in der Innenstadt von Florenz und deutet auf den Flachbildschirm. „So gewinnt man in Italien Wahlen“, sagt der Bankier im eleganten Seidenanzug. Der Sender Sky zeigt an diesem Mittwochnachmittag eine Wiederholung der Serie-A-Partie AC Mailand gegen C­atania. Milan-Stürmer Mario Balotelli schaffte in der 82. Minute den Ausgleich.

Was das mit Politik zu tun hat? Balotelli spielt seit Anfang Februar für Silvio Berlusconis Fußballklub AC Mailand. Um 20 Millionen Euro kaufte Italiens Ex-Premier den derzeit wohl populärsten Kicker Italiens von Manchester City. „Mailand wird wieder viel gewinnen, und das ist den Italienern viel wichtiger als irgendein Politikergeschwafel“, meint Marini. „Berlusconi weiß eben, was den Italienern wichtig ist. Das werdet ihr in Österreich oder Deutschland nie kapieren.“

„Seine Immobiliensteuer bringt uns alle um!“
Ein bis zwei Prozentpunkte dürfte Berlusconis Partei Popolo della Libertà (Volk der Freiheit) allein durch den Balotelli-Transfer gewonnen haben, glaubt auch Italiens bekanntester Meinungsforscher, Renato Mannheimer.
Zwei Straßen weiter stehen fünf Pensionisten. Sie schimpfen laut gestikulierend über die Sparpolitik der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und über das Expertenkabinett von Mario Monti. „Seine Immobiliensteuer bringt uns alle um!“, rufen die Männer. „Berlusconi ist unser einziger Retter, er wird diesen Wahnsinn beenden“, sagt einer und deutet auf ein leer stehendes Geschäft: „So geht es unserer Jugend unter Monti. Wir brauchen Berlusconi.“

Die spinnen, die Italiener! Als Silvio Berlusconi am 12. November 2011 seinen Rücktritt als Premierminister einreichte, stand das Land am Rande des Bankrotts. Die Staatsschulden hatten ein Rekordniveau erreicht, man galt nach Griechenland als Sorgenkind Nummer eins der Euro-Gruppe. Auch die Italiener selbst hatten die ewigen Skandale und leeren Versprechungen Berlusconis satt. Der Ex-Premier wiederum nannte seine Heimat ein „Scheißland“ und spekulierte sogar damit auszuwandern.
Die politische Ära des milliardenschweren Medienmoguls, die 1994 begonnen hatte, schien endgültig beendet, Italien zur Besinnung gekommen zu sein.

Kaum mehr als ein Jahr später steht Silvio Berlusconi schon wieder ante portas. Vor den Wahlen, die kommenden Sonntag und Montag stattfinden, holt seine Partei Popolo della Libertà, die bis vor Kurzem vor der Auflösung stand, in Umfragen stetig auf. Mitte Jänner war die Rechts­koalition des Schon-wieder-Kandidaten noch zwölf Prozentpunkte hinter den Linken unter Pier Luigi Bersani zurückgelegen. Einige Demoskopen prognostizieren inzwischen sogar ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den beiden Politikern.
Der mittlerweile 76-jährige Berlusconi zeigt sich in bester Wahlkampflaune. Er legt einen Auftrittsmarathon in seinen eigenen TV-Kanälen hin und verspricht den Italienern das Blaue vom Himmel. Die unter der Expertenregierung des Wirtschaftsprofessors Mario Monti eingeführte Immobiliensteuer (IMU) will er an die Haushalte zurückzahlen. Das würde 70 Prozent der Italiener bares Geld bringen. Obendrein sollen vier Millionen neue Jobs geschaffen und Steuerbetrüger amnestiert werden.
Wird es also zum fünften Mal eine Berlusconi-Regierung geben? Das scheint zwar ausgeschlossen. Wahrscheinlich ist aber, dass Berlusconi genügend Stimmen bekommt, um eine absolute Mehrheit der Linksdemokraten in der zweiten Kammer des Parlaments, dem Senat, zu verhindern. Dadurch könnte er Gesetze blockieren und sein Medienimperium Fininvest vor der Justiz schützen.

Nichts gelernt?
Der „Faktor B“, wie die Wochenzeitung „Panorama“ in ihrer aktuellen Ausgabe titelt, wird also auch in Zukunft eine essenzielle Rolle in der italienischen Politik spielen.
Die Berlusconi-Gegner in Italien verdrehen die Augen. Sie jammern und schimpfen über Freunde und Familienmitglieder, die Berlusconi die Treue halten. Haben die Italiener aus den vergangenen zwei Jahrzehnten wirklich nichts gelernt?
Manche lieben Berlusconi, weil er Farbe in die politische Landschaft Italiens bringt. Andere verzeihen ihm jeden Fauxpas – ­solange er die Steuern für Unternehmer senkt. Wieder andere sind von den Linken enttäuscht, die keine Parteierneuerung zulassen. Und schließlich sehen manche in Berlusconi den einzigen Politiker, der sich gegen die Spardoktrin der deutschen Kanzlerin Angela Merkel zur Wehr setzt.

Wenn Silvio Berlusconi über die „Kommunisten“ in Italien schimpft, meint er vor allem die Bewohner der Emilia-Romagna. Die norditalienische Region ist die Hochburg der italienischen Linken. Von 1945 bis 1991 regierte hier durchgehend der Partito Comunista Italiano. Nach der Auflösung der einst mächtigsten kommunistischen Partei Europas haben die Linksdemokraten das Sagen.

„Die Jungen haben in Italien keine Zukunft“
Federico Soavi ist somit ein eher untypischer Vertreter seiner Gegend: Der 21-jährige Physiotherapiestudent aus der Hauptstadt Bologna hat bei den Regionalwahlen vor zwei Jahren den Popolo della Libertà gewählt. Und auch am kommenden Sonntag will er Berlusconi seine Stimme geben. „Die Jungen haben in Italien keine Zukunft“, sagt Soavi in der Kantine des örtlichen Clubs „Rugby Bologna 1928“. Die Lage auf dem italienischen Arbeitsmarkt sei dermaßen trist, dass einige seiner Freunde bereits jetzt planten, ins Ausland zu gehen. „Als Physiotherapeut werde ich wohl einen Job bekommen. Das Problem ist aber, dass ich so wenig verdiene, dass ich nicht weiß, wann ich von zu Hause ausziehen und einmal selbst eine Familie ernähren kann.“ Soavi ist überzeugt: Die einzige politische Kraft, die sich für die Jugend einsetze, sei die Berlusconi-Partei: „Sie versucht zumindest, uns das Leben mit finanziellen Anreizen und Steuererlässen zu erleichtern.“ Den Showman Berlusconi selbst mag Federico Soavi eigentlich nicht besonders. Lieber wäre ihm ein Generationenwechsel in der Partei: Angelino Alfano, die Nummer zwei nach Berlusconi, müsse endlich den Popolo della Libertà übernehmen. „Aber so ist Italien, die Jungen haben wenig Chancen.“

Von einer „Schicksalswahl“ ist in den nördlichen Städten Italiens wenige Tage vor dem Urnengang erstaunlich wenig zu spüren. In Ferrara, einer 140.000-Einwohner-Stadt am östlichen Ufer des Po, sind kaum Wahlplakate zu sehen. Nach den Freiwilligen, die Wahlflyer an Passanten verteilen, sucht man vergeblich. Einziger Blickfänger ist an diesem Sonntag ein kleiner Mittelalter-Jahrmarkt in der Altstadt: Männer tragen Strumpfhosen und Kapuzenmäntel, die Frauen bunte Röcke und Kopftücher.

Am späteren Nachmittag errichtet der linke Partito Democratico einen kleinen Stand auf der zentralen Piazza San Giorgio. Giulia, eine Architektin Ende 20, zeigt sich frustriert: „Es ist momentan sehr schwierig, die Leute zu mobilisieren. Kaum jemand in Italien interessiert sich noch für Politik, alle sind nur gegen die da oben.“ Giulia betrachtet es bereits als Erfolg, dass sie in der Vorwoche vier Studenten überreden konnte, sich für die Partei zu engagieren.
Der eigentliche Wahlkampf findet woanders statt. Zum Beispiel in den TV-Kanälen von Silvio Berlusconi, wo er sich zuletzt mit Vittoria im Arm präsentierte: einem Hundewelpen aus dem Tierheim, gerettet vom „Cavaliere“, dem Ritter, wie Berlusconis Anhänger ihn gern nennen. „Keine Angst, ich bin nicht fernsehverblödet. Ich finde diese Auftritte aber irgendwie amüsant“, sagt Ricarda Bellini, 48, die für ein Unternehmen arbeitet, das Luxusküchen produziert und sich auf den Export in andere europäische Länder spezialisiert hat. „Alle italienischen Politiker ­betrügen uns doch seit Jahrzehnten. Berlusconi macht zumindest kein Hehl ­daraus. Und er bringt ein bisschen Farbe in diese Tristesse.“

„Im Ausland versteht man das nicht"
Als Silvio Berlusconi 1994 in die Politik einstieg, waren Filippo Mazzolini und Francesco Latini zehn Jahre alt. Beide sind unter der alles bestimmenden Figur der italienischen Politik der vergangenen zwei Jahrzehnte groß geworden. Die beiden jungen Männer arbeiten heute für Pizeta, ein Pharmazieunternehmen in Perugia, Hauptstadt der Region Umbrien. Francesco hat über „Bekannte“ einen Posten in der Rechtsabteilung gefunden. Filippos Vater verschaffte dem Sohn einen Job in der Architektenabteilung.
„Im Ausland versteht man das nicht, aber es gibt sehr gute Gründe für Berlusconi“, sagt Francesco. In Umbrien regiert wie in vielen norditalienischen Regionen die Linke: „Da gibt es keinen Fortschritt, denn wer kein Parteibuch hat, bekommt einfach keine öffentlichen Aufträge.“ Als Beispiel nennt er die hoch verschuldete Bank Monte dei Paschi di Siena in der Toskana. Die Regionalregierung bestimme die Manager.
Früher sei selbst Filippos Vater Mitglied der Kommunisten gewesen. „Mittlerweile ist auch er überzeugter Berlusconi-Anhänger – weil er unabhängig sein will und an Leistung glaubt.“

Bis heute sei Italien kein echter Staat, ärgert sich Francesco: „Norden und Süden – das sind zwei getrennte Länder. Wir arbeiten, und der Süden verprasst unser Steuergeld. Wir zahlen Abgaben und bekommen vom Staat eine miserable öffentliche Infrastruktur.“
So wie Filippo und Francesco sehen das viele Italiener: Die Einigung Italiens 1861 gilt vielen als historisches Missverständnis. „Der heutige Konflikt zwischen Rechten und Linken geht genau auf diese Zeit zurück“, sagt Giancarlo De Cataldo, Staatsanwalt, Schriftsteller und ein profunder Kenner der italienischen Seele. „Es geht bis heute um den Kampf der Liberalen gegen den Staat.“

Italien weist neben Griechenland die höchste Staatsverschuldung Europas auf und ist dennoch bis heute verhältnismäßig reich. Das ökonomische Rückgrat des Landes bildet ein dichtes Netz an Familienbetrieben, die mit einer Mischung aus Einfallsreichtum und Fleiß Weltmarken wie Fiat, Benetton oder Nutella hervorgebracht haben. Fast 40.000 dieser Familienunternehmen florieren bis heute, vor allem in den reichen Regionen im Norden des Landes.

Eines davon ist die Winzerei Lungarotti in Torgiano, einem winzigen Städtchen inmitten der Hügelketten der Region Umbrien. Teresa Severini-Zaganelli, Tochter aus erster Ehe des Unternehmensgründers Giorgio Lungarotti, erklärt die Arbeitsaufteilung innerhalb der Familie: Sie selbst ist für die Qualität der Weine verantwortlich, die Schwester für das Management, die Mutter kümmert sich um das Weinmuseum auf dem Winzergut in Torgiano.

Etwa 50 Mitarbeiter hat die Winzerei Lungarotti heute. Dem Unternehmen gehe es trotz Krise finanziell einigermaßen gut. Doch Severini-Zaganelli ist überzeugt, dass fleißige Familienbetriebe wie der ihre vom Staat geschröpft werden: „Wir zahlen unerträglich hohe Steuern, und die Bürokratie macht uns massiv zu schaffen.“ Worum es bei diesen Wahlen geht? „Um die Unternehmen, das Herz der italienischen Wirtschaft. Sie müssen endlich entlastet werden.“

Wen die elegante Mittfünfzigerin am kommenden Sonntag wählen wird, verrät sie lieber nicht. Aber eine Besitzerin einer Boutique im 20 Minuten entfernten Perugia ist sich sicher: „Wir Unternehmer wählen alle rechts, ohne Ausnahme.“ Warum? „Weil Berlusconi selbst Unternehmer ist und unsere Sorgen und Nöte kennt. Er ist eben kein Parteisoldat wie all die anderen in Rom.“

„Es genügt, wenn ich für ihn stimme“
Und was sagt sie zu den Bunga-Bunga-Partys und Schönheitsoperationen Berlusconis? „Das ist natürlich peinlich. Aber ich muss Berlusconi ja nicht heiraten. Es genügt, wenn ich für ihn stimme.“

Die Zona EUR im Süden der Hauptstadt Rom ist ein Wohn- und Geschäftsviertel mit Hochhäusern, Einkaufszentren und Konzerthallen. Federica Rossi lebt dort seit über 30 Jahren in einer etwa 80 Quadratmeter großen Wohnung.

Im Jahr 2009 verlor die heute 53-Jährige ihren Job als Flugbegleiterin bei Alitalia. Als die staatliche italienische Fluggesellschaft vor der Pleite stand, wurde ein Sparkurs verordnet: 3500 Angestellte hatten keine Arbeit mehr, eine davon war Federica Rossi (Name geändert, Anm.), damals Chefstewardess bei Alitalia. „Als das Kündigungsschreiben kam, ist meine Welt zusammengebrochen. Ich habe meinen Job geliebt.“ In den nächsten drei Jahren bekommt Rossi noch ein Arbeitslosengeld vom Staat ausbezahlt. Und dann? Die Jobsuche wird immer schwieriger, für den Arbeitsmarkt ist die Ex-Stewardess zu alt, wie sie selbst sagt.

Rossi bezeichnet sich als Atheistin und verteufelt Italien für seine „katholische Scheinheiligkeit“. Sie schimpft nicht pauschal über den Austeritätskurs von Mario Monti, so wie viele andere Italiener in diesen Tagen. Aber sie findet, dass es ein Fehler von Monti war, vor allem den Mittelstand zu belasten. Italien habe ohnehin schon einen der höchsten Steuersätze Europas: „Wir haben in jeder Krise unsere Opferbereitschaft bewiesen. Aber es geht nicht mehr, wir bluten aus. Also wähle ich denjenigen, der am wenigsten Abgaben verlangt.“

In der Linken habe leider kein Generationenwechsel stattgefunden, die Konzepte seien veraltet: „Ich habe immer die extreme Linke gewählt. Aber diesmal werde ich wohl erstmals Berlusconi meine Stimme geben.“