Türken, bitte kommen!

Türken, bitte kommen!

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Es hat vergangene Woche ganz nach einer guten Inszenierung ausgesehen. Der tiefe Konflikt zwischen Ankara und Brüssel über das türkische Vorhaben, Ehebruch zu kriminalisieren, und das schlussendliche und wundersame Happyend schien vielen ein Manöver der Beitrittsfreunde.

Was wie gefinkelt in Szene gesetzt ausgesehen hat, dürfte aber eher politischer Unbedarftheit von Recep Tayyip Erdogan, dem türkischen Premier, entsprungen sein, der nicht erkannt hatte, dass die angekündigte Haftandrohung für Seitenspringer eine willkommene Argumentationshilfe für die Gegner einer Aufnahme der Türkei in den europäischen Klub würde. Der Streit war wahrscheinlich nicht bloß politisches Theater: eine Farce aber allemal.

Denn es ist noch nicht so lange her, dass Europa auch meinte, dass Geschlechtsverkehr außerhalb des Ehebetts zu bestrafen sei. In Italien wurde der entsprechende Paragraf 1969 abgeschafft, in Frankreich 1975, die Iren können erst seit 1981 fremdgehen ohne Angst, dafür in den Knast zu müssen. Und bei uns wurden noch 1996 (!) ein Mann und eine Frau wegen flagranten Ehebruchs zu Freiheitsstrafen (auf Bewährung) und erheblichen Bußzahlungen verurteilt. Vor sieben Jahren wurde erst der Paragraf 194 des Strafgesetzbuches ersatzlos gestrichen.

Just die christlichen Konservativen Europas, die jahrzehntelang darauf bestanden, Ehebrecher strafrechtlich zu verfolgen, sind heute an der Spitze jener Kräfte, die sich besonders über gesellschaftspolitische Rückschrittlichkeit der islamischen Türken aufregen und ihnen den Eintritt in Europa verweigern wollen.

Die Abendländer, die explizit oder uneingestanden um die christliche Identität Europas bangen, sind freilich auf der Verliererstraße. Nach der Versicherung Erdogans, Sex außerhalb des Ehebetts doch nicht bestrafen zu wollen, scheint die Sache gelaufen zu sein. Wenn nicht noch etwas Unerwartetes passiert, wird kommende Woche die Kommission in Brüssel empfehlen, demnächst Beitrittsverhandlungen mit Ankara zu beginnen.

Auch die weniger ideologischen Gegner eines Türkeibeitritts werden, wie es heute aussieht, mit ihrer Argumentation nicht mehr durchkommen. Zu ihnen gehört auch profil-Herausgeber Christian Rainer, der in seinem Leitartikel der Vorwoche unter dem Angst einflößenden Titel „Die Türken vor Wien“ meinte, das Land sei einfach zu groß und zu arm. Eine Aufnahme der Türkei mit demnächst 100 Millionen Einwohnern könnte Europa einfach nicht verkraften. Die EU würde zwangsläufig destabilisiert.

Ist das wirklich so? Und ist nicht perspektivisch gerade die Größe der Türkei für Europa attraktiv? Hier einige Überlegungen zur Zukunft der EU:

Soll Europa in der kommenden Zeit ein ernsthafter Mitspieler in der Weltpolitik werden – ein Gegengewicht oder zumindest ein Korrekturfaktor gegenüber dem amerikanischen Hegemon –, braucht es Territorium und Menschen. Beides bietet die Türkei. Ob man will oder nicht, ein ernsthafter „global player“ benötigt ein Stück militärischer Macht. Die Türkei mit ihrer großen Armee bringt in das eher pazifistisch gestimmte und weit gehend abgerüstete Europa Soldaten ein. Europa vergreist und schrumpft. Demnächst, etwa ab 2010 oder 2012, droht aus demografischen Gründen ein allgemeiner Arbeitskräftemangel. Die Türkei hat eine große Reserve von jungen mobilen Menschen, die die europäische Ökonomie langfristig dynamisieren würde. Das bevölkerungsreiche Land zwischen Schwarzem und Mittelmeer bietet einen sich rasant entwickelnden und modernisierenden Markt. Die Integration eines islamischen Landes in die EU wäre ein starkes und positives Signal gegenüber dem gesamten arabischen und moslemischen Raum: Die Glaubwürdigkeit und das Gewicht Europas dort würde gewaltig wachsen. Wie auch geopolitisch die Türkei in der EU für Europa eine Brücke zu den strategisch und weltpolitisch wichtigen Regionen des Nahen Ostens und Zentralasien wäre. Dem Argument, die Türkei würde als langjähriges NATO-Mitglied und enger Verbündeter der USA die Rolle des Trojanischen Pferdes Amerikas in Europa spielen, kann entgegengehalten werden: Ankara ist ohnehin gerade dabei, sich ein wenig von der US-Dominanz zu befreien – siehe den Irakkrieg. Die Integration in die EU würde wahrscheinlich die türkische Loyalität weg von den USA hin zu Europa verschieben. Das europäisch-amerikanische Kräfteverhältnis würde sich langfristig zugunsten Europas verändern. Natürlich wird nach dem Türkei-Beitritt auch das Kräfteverhältnis innerhalb der EU ein anderes sein. Aber muss das eine Katastrophe bedeuten? Und wenn das größere politische Gewicht des Neuankömmlings sich als Problem herausstellen sollte, können die Entscheidungsstrukturen in der Union immer noch verändert werden.

Gewiss: Es gibt Risken und Gefahren. Das soll nicht abgeleugnet werden. Die gibt es immer, vor allem wenn es sich um die Zukunft handelt, von der man bekanntlich nicht genau weiß, wie sie aussieht. Aber die Zukunft des türkischen EU-Beitritts liegt eh noch in weiter Ferne. Jetzt soll einmal verhandelt werden.

Die Entscheidung der EU, ob man mit den Verhandlungen beginnen soll, wird aber letztlich davon abhängen, „ob sie von einem Europa getroffen wird, das ängstlich, oder von einem Europa, das zuversichtlich in seine eigene Zukunft blickt“, schrieb kürzlich Fareed Zakaria so trefflich im amerikanischen Magazin „Newsweek“.
Was die Türkei betrifft, scheinen im Moment die Kleinmütigen in Europa ins Hintertreffen zu geraten. Gut so.