Die Dreifaltigkeit des Franziskus

Papst Franziskus: Volkspapst, Reformer und Hardliner

Kirche. 100 Tage Papst Franziskus

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Hundert Tage: Was ist das schon für eine Institution, die bereits zwei Jahrtausende existiert, in Jahrhunderten denkt und sich Jahrzehnte zum Handeln nimmt?

Hundert Tage waren es am Donnerstag vergangener Woche, seit Jorge Mario Bergoglio zum Papst gewählt wurde und unter dem Namen Franziskus das Amt als Oberhaupt der katholischen Kirche übernahm. In dieser Zeit hat der 76-jährige Argentinier einen Tatendrang bewiesen, der ihn im Vergleich mit seinen 265 Vorgängern als nachgerade hyperaktiv erscheinen lässt.

+++ Intrigen, Korruption, Mafiageschäfte: Die römische Kurie sorgt seit Jahren für Negativschlagzeilen +++

Hundert Tage Franziskus, das bot fast so viel Action wie sonst hundert Jahre Kirchengeschichte. Alleine die Vielzahl an spontanen menschlichen Gesten und symbolträchtigen Auftritten, die der Mann seit Mitte März zustande gebracht hat, ist erstaunlich: am Petersplatz einer alten Dame im Rollstuhl die hinuntergefallene Handtasche aufheben; einen 17-Jährigen mit Down-Syndrom zu einer Fahrt im Papamobil einladen; jugendlichen Strafgefangenen in einer Haftanstalt die Füße waschen; 22 krebskranke Kinder besuchen, um ihnen Mut zuzusprechen; 800 Harley-Davidson-Biker samt ihren Motorrädern segnen – die Aufzählung könnte endlos weitergeführt werden. Zwischendurch ging sich sogar noch schnell eine Teufelsaustreibung auf offener Straße aus.

Gleichzeitig lässt der Papst eine Neuordnung des Kirchenstaats vorbereiten, die möglicherweise auch die ebenso mächtige wie skandalumwitterte Vatikanbank IOR (Istituto per le Opere di Religione) betrifft und historische Dimensionen annehmen könnte. Zwischendurch konferierte er mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel über die Finanzkrise und die Rolle der EU, mit Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy über die Finanzkrise und das Problem der Arbeitslosigkeit und mit dem venezolanischen Präsidenten Nicolas Maduro über die Finanzkrise und den Drogenhandel.

„Bist Du auf jemanden wütend?”
Und bei alledem findet er noch Zeit, einen mahnenden Brief an die Teilnehmer der G8-Konferenz in Nordirland zu verfassen, ein paar Kapitel einer neuen Enzyklika und nicht weniger als 70 erbauliche Tweets: „Bist Du auf jemanden wütend? Bete für diese Person. Das ist es, was christliche Liebe bedeutet“, lautete etwa jener vom 17. Juni.

2.611.754 Follower hatte der Twitter-Account @pontifex mit Stand Freitag, 19.50 Uhr vergangener Woche – 3000 mehr als noch am Abend zuvor. Die meisten davon mögen Katholiken sein. Dennoch lässt sich daraus auch der Schluss ziehen, dass der neue Oberhirte mit seinem ebenso hemdsärmeligen wie glaubensfesten Auftreten weit über die Kernschichten der Christenheit hinaus Anhänger findet – und scheinbar jedem etwas zu bieten hat.

Konservative Katholiken erwarten sich von ihm die Bewahrung von Traditionen, etwa in der Liturgie. Progressive hoffen auf eine Liberalisierung, zum Beispiel bei der Einbindung der Frauen. Und selbst für nicht unbedingt klerikophile Milieus ist er zur Projektionsfläche vielgestaltiger Erwartungen geworden. Die deutsche Grünen-Chefin Claudia Roth rechtfertigte Pläne zur Steuererhöhung für Spitzenverdiener jüngst etwa unter Hinweis auf den Heiligen Vater: „Da hatten wir sogar Papst Franziskus als Fürsprecher“, erklärte sie und ernannte ihn taxfrei zum „Ehrenmitglied von Attac“.

Der allumfassende Enthusiasmus überdeckt bloß die Tatsache, dass es die Welt bei Franziskus eigentlich mit drei Pontifizes zu tun hat:

Zunächst der Volkspapst, der den 1,2 Milliarden Katholiken die menschliche Dimension ihres Glaubens und seines Amtes zurückgeben will, die unter seinem weltabgewandten Vorgänger Benedikt XVI. in Vergessenheit zu geraten drohte;
dann der Reformpapst, der mit Härte und politischem Geschick in dem zur intriganten Religionsbürokratie verkommenen Kirchenstaat aufräumen soll;
und schließlich der Hardlinerpapst, der einen theologischen Kurs verfolgt, mit dem er sich von konservativen Vorgängern wie Benedikt XVI. und Johannes Paul II. weit weniger unterscheidet, als viele seiner Anhänger derzeit noch wahrhaben wollen.

Das Problem dabei:
Der eine oder andere dieser drei Päpste muss fast zwangsläufig mit den vielfältigen Hoffnungen in Konflikt geraten, die in die Person von Franziskus gesetzt werden.

I. Der Volkspapst
Ein typischer Tag im Leben von Franziskus beginnt damit, dass er um 4.45 Uhr aufsteht und bereits 15 Minuten später ein einstündiges Morgengebet absolviert. Um 6 Uhr wird dann gefrühstückt – und zwar in der Kantine. Der neue Papst hat sich nämlich geweigert, die Prunkräume im dritten Stock des Apostolischen Palastes zu beziehen, in denen seit 1903 alle seine Vorgänger logierten: auf mehreren hundert Quadratmetern, mit atemberaubendem Blick über Rom und umsorgt von dienstfertigen Klosterschwestern.

Franziskus hingegen wohnt weiterhin dort, wo er als Teilnehmer des Konklaves Quartier genommen hat: In der Casa Santa Marta, dem Gästehaus des Vatikan, das über 107 kleine Wohnungen und 23 Einzelzimmer verfügt.

„Ein Salon mit ein paar Sesseln und einem Sofa, Schreibtisch, Bücherwand und Kühlschrank, einem Teppich und Neonlampen. Dann gibt es noch ein Schlafzimmer und das Bad“, beschreibt eine Ordensfrau, die in dem Hospiz arbeitet, die 80 Quadratmeter große Unterkunft des Papstes. Das ist es auch schon: „Aber er beklagt sich nicht, er ist ja so bescheiden!“

Wenn es abends in der Kantine Büffet gibt, stellt er sich wie die anderen Gäste der Casa Santa Marta mit einem Tablett in der Hand an und setzt sich dann dort, wo gerade ein Platz frei ist.

Die Anspruchslosigkeit von Franziskus mag durchaus kalkuliert sein, ist aber offenkundig mehr als bloße Attitüde: Immerhin entspricht sie dem Leben, das Bergoglio als Armenpriester in Argentinien geführt hat. So jemandem nimmt man es ab, wenn er die Abkehr von materiellen Werten mit Sätzen wie diesem predigt: „Auch Petrus hatte kein Bankkonto.“ Oder wenn er einen bewussteren Umgang mit Konsumgütern fordert: „Das Wegwerfen von Nahrung kommt einem Diebstahl an den Armen und Hungrigen gleich“, twitterte @pontifex etwa vor Kurzem.

Die Boulevardmedien, aber nicht nur die, lieben ihn dafür. „Nach dem Appell von Papst Franziskus: Wie schaffe ich es, weniger Lebensmittel wegzuwerfen?“, titelte die deutsche „Bild“-Zeitung ergriffen. Es war nur eine von vielen Schlagzeilen, die der neue Pontifex inspiriert hat. „Franziskus legt sich mit der Mafia an“, ließ sich aus seiner unverblümten Ausdrucksweise ebenso basteln wie „Papst erlaubt Fluchen“ oder „Papst Franziskus: Jesus findet auch Atheisten gut“.

Was draußen in der Welt Furore macht, wird im Vatikan peinlich berührt zur Kenntnis genommen. Vor ein paar Tagen etwa, als Franziskus in einer Predigt auf eine minderjährige Schwangere zu sprechen kam, die sich gegen eine Abtreibung entschieden hatte: „Das Mädchen hatte den Mut, ihr Kind nicht zum Absender zurückzuschicken“, flapste der Papst – und brachte die Chronisten vom „Osservatore Romano“ damit in Gewissensnöte. In der gedruckten Zeitung wurde die allzu lockere Formulierung jedenfalls nicht wiedergegeben.

Wie überhaupt ein beträchtlicher Teil des vatikanischen Establishments so gar keine Freude mit der Wahl von Bergoglio hat, die nach weltlicher Meinung das Kardinalskonklave und nach eigener Definition sogar der Heilige Geist getroffen hat. Das hängt vor allem mit den umstürzlerischen Plänen zusammen, die der neue Papst offenbar wälzt.

II. Der Reformerpapst
Als sich Franziskus nach seiner Wahl weigerte, die Mozetta – den roten Schulterkragen der Päpste – anzulegen, war das mehr als ein Vorgeschmack auf die von ihm propagierte „Ästhetik der Bescheidenheit“ („FAZ“): Es war auch ein Bruch mit den Eliten des Kirchenstaats.
Die Vorgeschichte dazu ist unter dem Schlagwort Vatileaks bekannt: dem Diebstahl und der Veröffentlichung päpstlicher Akten, die Einblicke in die Abgründe der Kurie erlaubten, also der Zentralverwaltung der Weltkirche.
Die Intrigen, die dort gesponnen werden, sind für Außenstehende kaum zu durchschauen. Eines ist aber evident: Tarcisio Bertone, als Kardinalstaatssekretär die Nummer zwei im Vatikan, spielt eine wichtige Rolle dabei.

Was die Ermittlungen im Fall Vatileaks zutage brachten, ist in einem fast 300 Seiten umfassenden Bericht festgehalten, der noch unter Papst Benedikt fertiggestellt wurde – und dessen Inhalt nicht unwesentlich dazu beigetragen haben dürfte, dass dieser ermattet die Mitra an den Nagel hängte.

Franziskus hat den Report inzwischen studiert. Und die Andeutungen, die er darüber gemacht hat, sind düster: Von „korrupten Strömungen“ ist darin ebenso die Rede wie von einer „Schwulenlobby“ in der Kurie. Noch sei der Papst damit beschäftigt, sich selbst ein Bild von den Verhältnissen zu machen, sagt Giacomo Galeazzi, Vatikanexperte der Tageszeitung „La Stampa“ gegenüber profil: „Jetzt, in dieser ersten Periode seines Amts, trifft er sämtliche wichtigen Personen, fragt, hört zu und denkt sich seinen Teil.“

Ab Oktober soll dann eine achtköpfige Kommission von Kardinälen über eine Reform der Kurie beraten. Nur einen einzigen Italiener hat Franziskus dafür berufen. Schon das kommt einer Revolution gleich. Dass Bertone abgelöst wird, scheint schon jetzt gewiss: „Seine Arroganz ist untragbar geworden. Er wird mit Sicherheit in die Wüste geschickt“, sagt ein Journalist der italienischen Redaktion von Radio Vatikan.

Als Nachfolger an der Spitze der Kurie wird der aus Honduras stammende Kardinal Oscar Rodriguez Maradiaga gehandelt, der auch die Reformkommission leitet. Damit wird es aber nicht getan sein. Darauf deuten einige Maßnahmen hin, die bereits jetzt gesetzt wurden. Die Sonderzahlungen von 1500 Euro, die bisher alle Angestellten des Vatikan nach der Wahl eines neuen Papstes erhielten, ließ Franziskus nicht auszahlen. Den Kardinälen, von denen die Vatikanbank IOR geleitet wird, strich er kurzerhand die monatlichen Boni in Höhe von 2100 Euro. Und die Existenz des IOR selbst, das immer wieder durch intransparente Gebarung und Geschäftskontakte zur Mafia für Skandale gesorgt hat, steht offenbar auch zur Disposition.

„Im Oktober trifft der Papst jene Entscheidungen, auf die alle warten. Die Kurie wird dann gezwungen sein, diese Entscheidungen in die Realität umzusetzen“, sagt der investigative Vatikanjournalist Ferruccio Pinotti. „Im Herbst wird so manchem das Lachen vergehen“, prophezeit auch ein Monsignore aus dem Kardinalstaatssekretariat, der namentlich nicht genannt werden will.

Franziskus tendiert nämlich auch dazu, die Rücktrittsgesuche von Kardinälen anzunehmen – im Gegensatz zu seinem Vorgänger Benedikt XVI., der ältliche Purpurträger gerne in Amt und Würden beließ. Seit März hat der neue Papst bereits drei Kirchenfürsten in die Rente geschickt, über 18 weitere wird er in nächster Zeit entscheiden. Das heißt auch, dass er eine beträchtliche Zahl wichtiger Kirchenprovinzen neu besetzen kann.
Dieser Reformeifer lässt auch viele Katholiken auf Schritte in Richtung Liberalisierung hoffen.

III. Der Hardlinerpapst
Der Papst hat einen Hang zum Ausbüxen. Das erzählt jedenfalls eine Nonne, die in der Casa Santa Maria arbeitet: „Er zieht dann einfach los. Alle, die er trifft, Gärtner oder anderes Vatikanpersonal, machen ganz schön Augen, wenn seine Heiligkeit plötzlich fröhlich grüßend auftaucht.“
Ziel der Ausflüge ist das 200 Meter von seiner Unterkunft entfernte Kloster Mater Ecclesiae in den vatikanischen Gärten, in dem sein Anfang des Jahres zurückgetretener Vorgänger Benedikt XVI. residiert.

Mit ihm verbindet ihn nicht nur eine langjährige Bekanntschaft, sondern auch eine gemeinsame Linie. Derzeit sind die beiden mit der Finalisierung einer Enzyklika zum Thema Glauben beschäftigt, die ein absolutes Novum in der Geschichte des Papsttums darstellt: Begonnen hat das Lehrschreiben Benedikt, fertiggestellt wird es von Franziskus, im Ganzen soll es ein „Werk von vier Händen“ sein.

Das funktioniert nur bei weitgehender theologischer Übereinstimmung. „Was das betrifft, gleichen sie sich wie ein Ei dem anderen“, meint Gianfranco Ravasi, Kardinal und Kulturminister des Vatikans.

Zwar rufen Reformchristen, die sich unter Benedikt kein Gehör verschaffen konnten, nun mit frischem Elan zu Neuerungen auf. Helmut Schüller, Gründer der kirchenkritischen Pfarrer-Initiative nimmt den neuen Stil im Vatikan etwa zum Anlass, die Öffnung des Priesteramts zu fordern: „Für alle Getauften, egal ob Frauen oder Männer und ob verheiratet oder unverheiratet.“

Derzeit sieht es aber nicht danach aus, als könnte Schüller damit durchdringen. Darauf weist etwa die Entscheidung des Papstes hin, den als streng konservativ geltenden Leiter des Amts für die päpstlichen Liturgien nicht abzulösen. Der Renaissance von Traditionen aus der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, die sich unter Benedikt bemerkbar machte, stellt sich Franziskus offenkundig nicht entgegen. Und vehement ablehnende Aussagen zur Schwulenehe lassen keine Bereitschaft zu einer gesellschaftspolitischen Kursänderung erwarten.

Mit Überraschungen in dogmatischer Hinsicht ist von Franziskus nicht zu rechnen, darin sind sich Theologen und Vatikanexperten einig.

In den ersten hundert Tagen seines Pontifikats hat Franziskus sein Image gefestigt. Die nächsten hundert Tage, die im September enden, wird er seine Macht festigen müssen, um die bevorstehenden Auseinandersetzungen mit dem Kirchenapparat zu überstehen. Und erst dann wird er beginnen können, in den Zeiträumen zu denken und zu handeln, die für Päpste eigentlich angemessen sind – Jahrzehnten, Jahrhunderten und Jahrtausenden.