Weißer Rauch, dunkle Schatten

Vatikan. Mit dem neuen Papst stolpert die Kirche in das nächste Minenfeld unaufgearbeiteter Vergangenheit

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Von Anna Giulia Fink, Alexandra Muz, Martin Staudinger und Robert Treichler

Das Urteil über Jorge Mario Bergoglio war bereits gefällt, kaum dass er am vergangenen Mittwochabend die Wahl zum Papst und den Namen Franziskus angenommen, seine weiße Soutane übergestreift, am Balkon des Petersdoms „Buona Sera“ sowie ein paar harmlose Nettigkeiten, ein Vaterunser und ein Ave-Maria aufgesagt hatte: „Er ist der Papst der Herzen!“, jubelten die Titelseiten ecclesiophiler Schriften wie „Österreich“ und der Gratiszeitung „Heute“ bereits Donnerstagfrüh.

So schnell geht das, und seither ist der Christenheit nichts Menschliches über Franziskus mehr fremd.

Fröhlich sei der neue Pontifex, bescheiden, sanft, demütig – sogar die Gesichter der Putzfrauen im Vatikan hätten gestrahlt, als sie von seiner Wahl erfuhren, wusste Kardinal Christoph Schönborn in der „Kronen Zeitung“ zu berichten. Dass er immer das billigste Flugticket bucht und in Buenos Aires, wo die Öffis von der Oberschicht tunlichst gemieden werden, mit dem Bus zu fahren pflegt, wurde mit der gleichen Begeisterung rapportiert wie seine kulturellen Vorlieben: dass er Opern liebt und begeistert liest, besonders die Werke von Jorge Luis Borges und Fjodor Dostojewski. Dass er Tango kann. Und dass er glühender Fußballfan ist.
Zusammen mit dem Leitmotiv – dem Einsatz für die Armen –, das über dem Wirken des ersten lateinamerikanischen Papstes schwebt, ergibt das eine wunderbare Geschichte zum Start ins Pontifikat.

Aber es ist nicht die ganze Geschichte.

Anschuldigungen nie ganz entkräftet
Keine ernsthafte Darstellung der Biografie von Jorge Bergoglio kann auf ein Kapitel verzichten, das die Jahre 1976 bis 1983 beschreibt: die Ära der Militärdiktatur in Argentinien. Aus dieser Zeit gibt es Vorwürfe, die ihn in die Nähe der Kollaboration mit dem Regime rücken – bis hin dazu, der heutige Papst Franziskus sei mitverantwortlich für die Inhaftierung von zwei Mitbrüdern in einem Foltergefängnis.

Bergoglio hat diese Anschuldigungen immer bestritten. Gänzlich entkräften konnte er sie aber nicht. Und damit öffnet die Kirche mit der Wahl des Kardinals von Buenos Aires zum 266. Papst ungewollt das nächste düstere Kapitel ihrer jüngeren Geschichte: Nach der Debatte über den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Angehörige des Klerus ist jetzt ihr kumpelhaftes Verhältnis zu diversen Rechtsdiktaturen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an der Reihe.

Besonders im Argentinien von General Jorge Rafael Videla und im Spanien des Caudillo Francisco Franco, wo zu Zeiten des Kalten Krieges im Namen des Antikommunismus Tausende und Abertausende Oppositionelle unterdrückt, gefoltert und ermordet wurden, war die katholische Kirche eng mit dem Regime verbunden. In anderen Ländern agierte sie zumindest zwischen Anbiederung und Selbstschutz.
Es gibt kein pauschales Urteil darüber, was verantwortungsvolles Handeln unter den Bedingungen einer Diktatur bedeutet: Das kann nur im Einzelfall abgeschätzt werden. Aber es ist evident, dass sich die Kirche danach in vielen Fällen nur sehr zögerlich der Aufarbeitung ihrer Rolle gestellt hat. Besonders in Argentinien, der Heimat des neuen Papstes.

Über dem Pontifikat von Franziskus liegt von Beginn an dieser Schatten. Und er könnte noch dunkler werden, wenn die Diskussion darüber nicht – wie vom Vatikan vermutlich erhofft – einschläft, sondern weitergeht und womöglich sogar zu Forderungen nach Historikerkommissionen und schließlich Schadenersatz führt, ganz nach dem Vorbild der Klagen von Missbrauchsopfern.

Jorge Bergoglio war 39 Jahre alt und seit drei Jahren Provinzial des Jesuitenordens in Argentinien, als sich Jorge Rafael Videla im März 1976 an der Spitze einer Militärjunta an die Macht putschte. Von da an führte das diktatorische Regime des Generals einen jahrelangen, schmutzigen Krieg gegen alle, die aus seiner Sicht links oder oppositionell eingestellt waren. Die katholische Kirche stand der Junta, für die Entführung, Folter und Mord zum Alltagsgeschäft zählte, nahe. Die argentinischen Bischöfe verteidigten die Untaten, unter anderem mit der Begründung, es sei falsch, von den Sicherheitsbehörden zu verlangen, „wie in Friedenszeiten vorzugehen, während jeden Tag Blut fließt“. Zwischen 13.000 und 30.000 Personen verschwanden von 1976 bis 1983, die meisten starben eines gewaltsamen Todes.

Zweimal der Aussage entschlagen
Franz Jalics war einer der wenigen, die verschleppt wurden und überlebten. Der heute 85-jährige Jesuit lebte 1976 zusammen mit seinem Mitbruder Orlando Yorio am Rande des Elendsviertels Bajo Flores in Buenos Aires als Armenpriester. Alleine das wurde von manchen als Unterstützung der linksgerichteten Guerilla interpretiert, erinnert sich Jalics in seinem 1994 erstmals erschienenen Buch „Kontemplative Exerzitien“. Was dann passierte, beschreibt Jalics so: „Am 23. Mai 1976, einem Sonntagvormittag, umstellten 300 schwerbewaffnete Soldaten und Polizeiwagen unsere Hütte am Rand des Elendsviertels.“ Die Greifer fesselten Jalics und Yorio, stülpten ihnen blickdichte Kapuzen über den Kopf und verschleppten sie. Fünf Monate lang verbrachten die beiden mit Handschellen und einer Kette mit einer schweren Kanonenkugel am Bein in Gefangenschaft, ehe sie schließlich auf einem Feld ausgesetzt wurden – halb nackt und vollgepumpt mit Drogen.

Jalics, der später nach Deutschland auswanderte und in der bayrischen Gemeinde Wilhelmsthal ein Meditationszentrum gründete, hat keinen Zweifel daran, wer ihn und seinen Freund damals verraten hat. „Eine gewisse Person“ habe „das Gerücht verbreitet“, dass er und Yorio Guerilla-Sympathisanten seien, schreibt er. Diese Person habe „mit ihrer Autorität die Verleumdung in breiten Kreisen glaubwürdig gemacht“. Jalics habe „dem besagten Mann“ persönlich gesagt, dass er auf diese Weise mit Jalics’ Leben spiele, doch vergeblich.

Jalics bewahrt die Anonymität des „besagten Mannes“, doch Yorio, der im Jahr 2000 gestorben ist, soll gegenüber dem Journalisten Horacio Verbitsky den obersten Jesuiten Argentiniens beschuldigt haben, „nichts für unsere Freiheit getan zu haben, sondern eher das Gegenteil“: Jorge Bergoglio. Dass er Jalics und Yorio nicht gerade wohlgesinnt war, ist dokumentiert. Eine Woche vor ihrer Entführung war den beiden verboten worden, Gottesdienste abzuhalten.

Bergoglio bestreitet diese Darstellung und behauptet, er habe nur wenige Kontakte zum Regime unterhalten, diese aber dazu benutzt, die beiden Priester freizubekommen. Im Jahr 2005 brachte der Anwalt Marcelo Parrilli Anzeige gegen den damaligen Kardinal Bergoglio ein – wegen dessen mutmaßlicher Verwicklung in den Entführungsfall. Der heutige Papst entschlug sich zweimal der Aussage. Es kam zu keiner Anklage.

Fünf Jahre zuvor hatte die argentinische Bischofskonferenz unter Kardinal Bergoglio um Verzeihen für ihr Schweigen während der Diktatur gebeten, dabei jedoch auf ein Eingeständnis ihrer Verantwortung als Institution verzichtet. Die Wunden der Vergangenheit müssten sich schließen, damit man in die Zukunft blicken könne, erklärte die Kirche.

Das blieb nicht unwidersprochen: „Ohne Wahrheit und Gerechtigkeit gibt es keine Zukunft“, entgegnete der damalige Staatspräsident Néstor Kirchner.
Selbst wenn Jalics und Yorio von Bergoglios Komplizenschaft an ihrer Verschleppung überzeugt gewesen sein sollten, ist das noch kein Beweis seiner tatsächlichen Schuld. Jalics schreibt in seinem Buch, er trage niemandem mehr etwas nach. Auf Anfrage von profil hieß es, Jalics sei „auf Reisen“.

Rom wusste von den Verbrechen der argentinischen Junta
Der Verdacht, Papst Franziskus habe in dieser Affäre schwere Schuld auf sich geladen, bleibt, auch wenn der Vatikan dies kategorisch zurückweist. Sicher ist, dass die argentinische Kirche – unter Bergoglios Mitverantwortung – eine Aufarbeitung ihrer Verstrickung in die Untaten der Militärdiktatur bis heute nicht ernsthaft begonnen hat.
Erst vergangenes Jahr rang sich das Episkopat vor Gericht zum Eingeständnis durch, seit 1978 von der Ermordung verhafteter Regimegegner gewusst zu haben. Und auch das nur, weil das Protokoll eines Treffens zwischen hohen Kirchenvertretern und Diktator Videla an die Öffentlichkeit kam, bei dem darüber gesprochen worden war. Adressat des Protokolls war der Vatikan – womit bewiesen ist, dass auch Rom von den Verbrechen der argentinischen Junta wusste.

Wenig Engagement bei der Aufarbeitung ihrer problematischen Geschichte zeigt auch die katholische Kirche in Spanien. Dort hatte sie von Beginn des Bürgerkriegs 1936 bis 1975 das spirituelle Rückgrat der Franco-Diktatur gebildet. Ein Konkordat aus dem Jahr 1953 sicherte dem Klerus Vergünstigungen und Vorrechte wie in keinem anderen Land der Welt – und dem Regime umgekehrt Einfluss auf das Glaubensleben.
„Franco besitzt jetzt das Recht auf die Designierung der Bischöfe, auf besondere, seine Person einschließende Gebete während der Messfeiern in allen Kirchen Spaniens und auf den Titel des Proto-Kanonikus von Santa Maria Maggiore in Rom“, berichtete damals der „Spiegel“.

Im Gegenzug wurde in die spanische Verfassung ein Artikel aufgenommen, der dem Katholizismus den Status einer Staatsreligion einräumte: „Das Bekenntnis und die Ausübung der katholischen Religion, welche die Religion des spanischen Staates ist, steht unter staatlichem Schutz“, hieß es darin. „Andere Zeremonien oder äußere Kundgebungen als die der katholischen Religion sind nicht erlaubt.“

Währenddessen ließt Franco Zehntausende Oppositionelle verhaften, hinrichten und in Massengräbern verscharren – zumeist ehemalige Gegner, die während des Bürgerkriegs aufseiten der Republikaner gekämpft hatten. Als mit ihnen aufgeräumt worden war, wandte er sich der linken Opposition zu. Rund 30.000 Kinder wurden ihren als politisch unzuverlässig geltenden Eltern weggenommen, bekamen neue Namen und wurden ausgerechnet der Kirche übergeben.

Der Klerus schwieg und machte mit.

Erst 2007 konnte sich die Kirche zu einem zaghaften „Mea culpa“ durchringen. Das habe „in einer Sitzung der Bischofskonferenz am Montagabend viele spanische Kirchenoberen in Staunen versetzt“, schrieb die Zeitung „El País“ damals.

Sonderregelung für den Klerus
Als im gleichen Jahr ein Gesetz zur Rehabilitierung der Opfer der Diktatur verabschiedet wurde, handelte der Klerus eine Sonderregelung aus. Sie verhindert „aus künstlerischen oder religiösen Gründen“, dass die zahlreichen Symbole und Inschriften aus der Franco-Zeit, die sich immer noch auf spanischen Kirchen finden, entfernt werden müssen. Ebenfalls 2007 wurden in Rom 498 Kirchenanhänger als „Märtyrer“ einer „religiösen Verfolgung“ während des Bürgerkriegs seliggesprochen.

2009 zerknirschten sich die baskischen Bischöfe dann über das jahrzehntelange Schweigen ihrer Vorgänger zu 14 Morden während des Bürgerkriegs. Das betraf freilich ausschließlich Geistliche, die als Franco-Gegner hingerichtet worden waren. Dafür sprachen sich Katholiken und andere Konservative 2008 vehement dagegen aus, die Massengräber aus den Jahren 1936 bis 1939 zu öffnen, in denen die Faschisten Zehntausende Hingerichtete verscharrt hatten. Das würde bloß „alte Wunden öffnen“, hieß es.

„Als ob keine Wunden aufgerissen werden, wenn die PP und die Bischöfe zuhauf an Zeremonien zur Seligsprechung teilnehmen! Natürlich reißt das auch Wunden auf. Aber an die Verletzungen, die Franco und die Rechten dem spanischen Volk zugefügt haben – daran darf man nicht erinnern“, ärgerte sich damals der 2011 verstorbene Schriftsteller Jorge Semprún in einem Interview. „Auch die Kirche hat sich immer noch nicht kritisch von ihren Positionen des Bürgerkriegs distanzieren können. Sie sieht den Krieg immer noch als Kreuzzug.“

Es ging aber auch anders: In Paraguay zum Beispiel stellte sich die Kirche entschieden gegen Diktator Alfredo Stroessner, in Chile ging sie immer mehr in Opposition zu Augusto Pinochet. Freilich erst, als sie selbst zunehmend zum Opfer von Repressionen wurde.

Wie es auch sonst schwer ist, ein einheitliches Bild vom Verhalten der katholischen Kirche unter den Bedingungen diktatorischer Regime zu zeichnen. Nicht einmal innerhalb eines Landes. Immer gab es die Armenpriester, die wie Franz Jalics als links oder gar terrorverdächtig galten, weil sie aufseiten der Unterdrückten standen. Meistens aber auch die anderen, die klare Sympathien für die Rechten und den Kampf gegen den Kommunismus hatten – und ebenso klare Antipathien gegen alles, was nach Befreiungstheologie roch.

Hinzu kommt die Grauzone, in der sich die Kleriker bewegten. „Wir haben alle nicht miterlebt, was es heißt, in einer verantwortlichen Position in einer Diktatur die eigenen Leute zu führen und zu schützen“, gab Georg Sporschill, Gründer des in Rumänien und Moldawien tätigen Hilfswerks „Concordia“ und selbst Jesuit, gegenüber der Austria Presse Agentur zu bedenken. „Da muss man sicher eine gewisse Nähe suchen und Zugeständnisse machen.“

Wie weit der heutige Papst Franziskus dabei gegangen sei, wisse er aber nicht, so Sporschill: „Da gibt’s Vorwürfe, aber es gibt auch die Tatsache, dass er einmal um Entschuldigung gebeten hat für diese Nähe zur Junta. Und wenn man im Leben Fehler gemacht hat und dann um Entschuldigung bittet, ist das etwas Großes, und auch ein Papst kann nicht unter den ganz unschuldigen Menschen gesucht werden, sondern unter denen, die zu ihren Stärken, aber auch zu ihren Schwächen stehen. Und wenn er Schwächen hatte und dafür um Entschuldigung gebeten hat, ist das mehr als menschlich und in Ordnung. Ich stell mir unter einem Papst keinen gläsernen, chemisch reinen Menschen vor, sondern eben einen Menschen, der auch Fehler macht und die auch korrigiert.“

Der Vatikan wiederum verfiel rhetorisch zumindest ansatzweise wieder in die Zeit des Kalten Krieges, als er die Vorwürfe gegen Franziskus am Freitag vergangener Woche „mit aller Deutlichkeit“ zurückwies: Die Anschuldigungen würden „von linken Kräften“ stammen, die „der Kirche schaden wollen“, erklärte Papst-Sprecher Federico Lombardi.

Und Jalics selbst will sich offenbar nicht mehr dazu äußern. Zur genauen Rolle Bergoglios während der Zeit der Inhaftierung könne er heute keine Stellung beziehen, hieß es in einer Stellungnahme, die in seinem Namen verbreitet wurde. Er wünsche „Papst Franziskus Gottes reichen Segen für sein Amt“.

Das ehrt den alten Mann. Franziskus darf aufatmen. Die provokante Frage des britischen Wochenmagazins „New Statesman“, ob der Papst wegen seiner Vergangenheit zu verdammen sei, kann man mit Nein beantworten. Zu viel ist unklar, es gilt die Unschuldsvermutung. Doch genau diese Unklarheit ist es, die Jorge Bergoglio selbst zu verantworten hat, ebenso wie die argentinische Kirche insgesamt.

Den Anspruch weltweit anerkannter, moralischer Autorität kann Papst Franziskus deshalb nicht stellen. Das ist wohl die schwerste Hypothek, mit der ein Pontifikat beginnen kann.