Zeitgeschichte: „Mein lieber Freund“

Zeitgeschichte: „Mein lieber Freund“ - Bruno Kreisky, Jassir Arafat und Palästina

Bruno Kreisky, Jassir Arafat und Palästina

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Vergessen und unbeachtet lagert im Kreisky-Archiv in Wien ein ungehobener Schatz: rund 30 Briefe, die Bruno Kreisky und Jassir Arafat vor allem in den Jahren 1978 bis 1983 einander über Mittelsmänner zukommen ließen. Von den im Archiv arbeitenden Kreisky-Experten Oliver Rathkolb und Stefan Lütgenau einmal abgesehen, scheint sich hierzulande niemand so recht dafür zu interessieren.

In den Briefen spiegeln sich die Krisen der palästinensischen Befreiungsbewegung PLO, Arafats schmeichlerisch-devote Hilflosigkeit, Kreiskys fast schon naives Vertrauen auf die Kraft der Vernunft, die Enttäuschungen der beiden und das gegenseitige Unverständnis.

Der Tabubrecher. 1983 verstummte Kreisky plötzlich. In diesem Jahr wurde sein palästinensischer Freund Issam Sartawi bei einer Tagung der Sozialistischen Internationale in Portugal ermordet (siehe Kasten Seite 40). Kreisky schrieb danach nur noch einen Brief an Arafat: ein kurzes, förmlich gehaltenes Glückwunschschreiben zu dessen 60. Geburtstag im August 1989. Kreisky konnte es nicht verwinden, dass Arafat seine schützende Hand von Sartawi gezogen, ihn den radikalen Kräften in der PLO buchstäblich zum Abschuss freigegeben hatte – aus Charakterschwäche oder politischem Kalkül, wer weiß das schon? Eine politische Freundschaft, die viel versprechend begonnen hatte, war zerrüttet.

Das Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge und Israel, die Heimstatt der Juden, haben Kreisky zeit seines Lebens nicht losgelassen. Er sah früher als andere, wie nach dem siegreichen Siebentagekrieg 1967, in dessen Verlauf das israelische Militär die Westbank und Gaza besetzt und zigtausende Palästinenser aus ihren Dörfern vertrieben hatte, in der israelischen Gesellschaft eine arrogante Besatzungsmentalität aufzukeimen begann.

1974 trafen Kreisky und Jassir Arafat das erste Mal aufeinander, in Kairo, im Zuge einer Fact-finding-Mission der Sozialistischen Internationale. Arafat hinterließ, wie Kreisky in seinen Memoiren anmerkt, einen „ungünstigen Eindruck“. Der PLO-Führer gab revolutionäre Phrasen von sich und schien keinen Plan zu haben. Doch Kreisky war nicht nur ein Visionär, er war auch Realpolitiker, und ein anderer Verhandlungspartner als Arafat stand für eine friedliche Lösung des Palästinenserproblems nicht zur Verfügung.

In der Sozialistischen Internationale herrschte zu jener Zeit eine Koalition des schlechten Gewissens, die aus der europäischen Verantwortung für den Holocaust rührte. Kritik an der israelischen Landnahme war tabu, und Kreisky stand zunächst ziemlich allein da. Das konnte oder wollte Arafat nicht verstehen. Auf eine gemeinsame Palästinaerklärung von Kreisky und Willi Brandt, dem damaligen Präsidenten der Sozialistischen Internationale (SI), reagierte Arafat im August 1978 in einem Brief an Kreisky mit dem Furor selbstgerechter Empörung. Er stieß sich an der Formulierung, dass die Palästinenser nur „partizipieren“ und nicht allein über ihr „Schicksal bestimmen“ sollten. Er verstieg sich zu dem Vorwurf, Kreisky und die SI seien von den Thesen des Grafen Gobineau beeinflusst, einem „Rassetheoretiker“ des 19. Jahrhunderts, den die Nationalsozialisten gern zitiert hatten. Die Palästinenser würden als einziges Volk wie „Menschen zweiter Klasse“ behandelt, so Arafat.

Unverständnis. Im Grunde ging es damals um die Frage, ob die PLO bei den Friedensgesprächen zwischen Israel und Ägypten in Camp David Sitz und Stimme erhalten sollte, was Israel strikt ablehnte und wofür sich Kreisky unermüdlich einsetzte.

Die Anspielung auf Gobineau muss Kreisky maßlos geärgert haben. Das war gegen sein gesamtes Denken gerichtet. In nächtelangen Gesprächen mit Issam Sartawi, dem Mittelsmann zwischen ihm und Arafat, war es oft um die Frage gegangen, was denn ein Volk ausmache. Für Kreisky, der auf wissenschaftlich verbrämte Rassentheorien allergisch reagierte, waren die Juden, ethnologisch betrachtet, genauso wenig ein Volk wie die Palästinenser. Für ihn war ein Volk in erster Linie eine Schicksalsgemeinschaft.

Arafat freilich verstand das Schicksal der Juden nie. In seinen Briefen an Kreisky verglich er die israelische Politik immer wieder mit dem Holocaust und beschimpfte israelische Politiker als „Neo-Hitler“. An Kreisky gefiel ihm, dass er „das Exil der Kapitulation vor dem Naziregime vorgezogen hatte“. Dass Kreisky gar keine Alternative hatte außer Flucht oder Gaskammer, kam ihm nicht in den Sinn.

Kreisky kämpft 1978 und 1979 unermüdlich darum, Arafat in Westeuropa salonfähig zu machen. Der damalige Kreisky-Sekretär Wolfgang Petritsch erinnert sich heute, dass Kreisky immer wieder zu Arafat gesagt habe: „Du musst dich entscheiden, ob du weiter ein Guerillaführer bleiben oder ein Staatsmann werden willst.“ Im Juli 1979 wollte er Willi Brandt mit Arafat in Wien zusammenbringen. Arafat macht es ihm nicht gerade leicht. Wenige Wochen vor dem geplanten Gipfeltreffen, am 4. Mai 1979, weist Kreisky den PLO-Führer scharf darauf hin, dass sich an seiner Politik rasch etwas ändern müsse. Der Freund, so Kreisky, gefalle sich offenbar in einer Märtyrerhaltung („Massada-type attitude“), verhalte sich „selbstbeschädigend und unrealistisch“ und begleite „seine wütenden Rundumschläge mit einer Serie von Terroranschlägen in Frankfurt, Paris, Wien und Brüssel“.

„Ich bin schockiert und bedrückt von dieser selbstzerstörerischen Aktivität“, schreibt Kreisky. „Die sinnlosen Akte von Terror (…) berauben die palästinische Sache jeder Anteilnahme.“ Er sei „persönlich tief verletzt vom Anschlag auf die jüdische Synagoge in Wien“, so Kreisky weiter. „Unser gemeinsamer Freund Dr. Sartawi erklärte mir, dass der Anschlag von einer nicht-palästinensischen Gruppe ausgeführt wurde (...) Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass der Anschlag unter palästinensischer Flagge und von einer der PLO angeschlossenen Gruppe ausgeführt worden ist.“ Im Hof der Synagoge war 1979 ein halbes Kilogramm Sprengstoff zur Explosion gebracht worden. Verletzt wurde niemand.

Knapp zwei Wochen später antwortet Arafat kleinmütig: „Ich bin bewegt von dem Umstand, dass Sie die Zeit gefunden haben, mir zu schreiben in den letzten Tagen eines bedeutsamen nationalen Wahlkampfes. Gleichermaßen bewegend war der offene Ton des Briefes, den ich als Aufruf eines von Schmerzen geplagten, wahren Freundes empfand, der schockiert war über die Verschlechterung der Situation im Nahen Osten.“ Doch Arafats Einsicht hält nicht lange vor: „In genau dem Moment, in dem Sie, mein lieber Freund, mir eine verhärtete Position vorwerfen“, so Arafat weiter, probe der israelische Premier Menachem Begin „einen Völkermord in genau jener Art, in der Hitler versuchte, die Juden Europas für das Verbrechen ihrer Existenz zu bestrafen“. Schließlich verteidigt Arafat wieder einmal terroristische Aktionen: „Wenn wir unser legitimes Recht auf Selbstverteidigung durch ausgeweitete militärische Aktivität gegen diesen Neo-Hitler und sein Neo-Nazi-Regime ausüben, dann können wir weder beschuldigt werden, streitlustig zu sein, noch als selbstmörderisch bezeichnet werden.“

Imagegewinn. Vier Wochen später, die Einladung nach Wien hat Arafat bereits in Händen, bedankt er sich für die „tiefen Bande unserer Freundschaft“, würdigt Kreiskys „große Weisheit“, seinen „tiefen Sinn für Gerechtigkeit“ und seine „unerschöpfliche Reserve an moralischem Mut“. Auch Kreisky ist nun an Harmonie gelegen. „Ich fühle“, schreibt er gewunden, „dass unser Austausch uns näher bringt (…) Die staatsmännische Haltung, die aus Ihren Briefen spricht, bewundere ich, sie bestärkt mich in meiner Ansicht, dass die palästinensische Führung jenem Anliegen gerecht wird, das sie repräsentiert.“

Beim Gipfeltreffen am 8. Juli 1979 in Wien stellt Arafat in internen Gesprächen eine baldige Anerkennung des Existenzrechts Israels in Aussicht. Explizit und offiziell wird die PLO dies jedoch erst neun Jahre später aussprechen.

Nach diesem Gipfel ist Arafat ganz offensichtlich um einen Imagegewinn bemüht. Er bietet sich Kreisky als Vermittler bei Geiselnahmen mit palästinensischem Hintergrund an. Er verspricht, auf die muslimischen Aufständischen im Iran, die den Schah hinweggefegt haben, mäßigend einzuwirken. In persönlichen Gesprächen nennt er sie „crazy clergymen“ (verrückte Geistliche). Er empfiehlt Kreisky, dem Schah von Persien in Österreich kein Asyl zu gewähren. Kreisky wiederum „wäre sehr dankbar“, wenn Arafat seinen „Einfluss innerhalb der Bewegung der nicht paktgebundenen Länder nützen könnte, um Kurt Waldheim für eine zweite Periode als UN-Generalsekretär zu unterstützen“.

Doch schon dräut die nächste Krise heran. Diesmal geht es um Issam Sartawi. Kreisky hat dem westlich orientierten, in den USA ausgebildeten Chirurgen, der ihm mittlerweile ans Herz gewachsen ist, gemeinsam mit dem ehemaligen Generalsekretär der israelischen Arbeiterpartei einen Menschenrechtspreis verliehen. Sartawi dürfe den Preis nicht annehmen, fordert Arafat, das zieme sich nicht, ein Palästinenser an der Seite eines Isrealis. Andernfalls müsse er aus der PLO austreten.

Bittere Freundschaft. Am 7. Jänner 1980 schreibt Kreisky empört an Arafat: „Es ist ausschließlich unsere Freundschaft, die schwierige Zeiten überstanden hat (…) aber diese Freundschaft kann nur auf der Basis absoluter Offenheit und Aufrichtigkeit bestehen.“ – Für Kreisky ist Sartawi „ein Testfall für die zukünftigen Beziehungen zwischen der PLO und ihren Freunden in den europäischen Demokratien“. Und er fügt einen weiteren väterlichen Ratschlag hinzu: Da sich „die Sowjetunion in Afghanistan in einen Konflikt verwickelt hat, der lange währen wird oder der, wenn er beendet werden kann, immer wieder aufflammen wird“, und „eine Renaissance islamischer religiöser Ideen nebst allen politischen Implikationen“ zu befürchten sei, empfehle er der PLO, „sich nicht ausschließlich auf die Freundschaft mit der Sowjetunion zu verlassen“. Arafat verteidigt sich nur matt. Der Fall Sartawi sei durch eine „Verzerrung der Presse“ entstanden. Sartawi war dann bald wieder als Sonderemissär Arafats unterwegs.

Doch der Fall Sartawi kann nicht mehr glücklich gelöst werden. Arafat gerät immer stärker unter Druck seitens radikaler Kräfte in seiner Organisation, die selbst ihm nach dem Leben trachten. Am 1. Mai 1981, auf dem Weg zum Maiaufmarsch am Rathausplatz, wird der sozialdemokratische Stadtrat und Präsident der österreichisch-israelischen Freundschaftsgesellschaft, Heinz Nittel, ermordet. Kreisky ist tief getroffen. Ein paar Wochen später wird auf die Besucher der Wiener Synagoge geschossen. Bei diesem Anschlag sterben zwei Menschen. Der in Wien akkredidierte Botschafter der PLO, Ghazi Hussein, wird dabei ertappt, wie er am Flughafen zwei Koffer mit Waffen aus Beirut in Empfang nehmen will. Als sich schließlich herausstellt, dass nicht nur die radikale Abu-Nidal-Gruppe, die sich längst von Arafat losgesagt hat, sondern auch Angehörige von Arafats Sicherheitspolizei an Vorbereitungen für terroristische Aktionen in Wien beteiligt sind, fühlt sich Kreisky „zutiefst verraten“, was er Arafat auch persönlich mitteilt (siehe Interview Seite 39).

Verstimmung. Im Oktober 1981 wird der ägyptische Staatschef Anwar el-Sadat in Kairo ermordet, was Arafat zufrieden kommentiert. Kreisky findet das „unfassbar“. Die Zeitungen schreiben: „Jetzt bricht Kreisky mit Arafat.“ Das Attentat war eigentlich in Salzburg geplant gewesen, die österreichischen Sicherheitsbehörden hatten Sadat jedoch gebeten, von einem Österreich-Besuch Abstand zu nehmen.

Kreisky war zweifellos verstört, doch soweit er der Sache nützen konnte, blieb er solidarisch. Am 12. Februar 1982 ließ er Arafat die Nachricht zukommen, dass „nach vertraulichen Mitteilungen (…) Israel nur auf einen Vorwand wartet, um eine militärische Aktion im südlichen Libanon zu beginnen“. Den Anlass bot ein paar Monate später ein Terroranschlag auf ein Botschaftsgebäude in London. Arafat und die PLO-Führung, die schon lange im libanesischen Bürgerkrieg mitgemischt hatten, was Kreisky immer für falsch gehalten hatte, waren nun in einem Bunker in Westbeirut eingeschlossen (siehe Kasten Seite 37). Kreisky akzeptierte die handschriftliche Ernennung eines neuen Botschafters in Wien, den die PLO nun wirklich dringend brauchte. Aber er hielt es für moralisch verwerflich, dass sich Arafat mit ein paar tausend seiner Funktionäre in sein neues Hauptquartier in Tunis ausfliegen ließ und die Palästinenser in den Flüchtlingslagern ihrem Schicksal überließ. Unter den Augen der Israelis, vor allem des damaligen Oberkommandierenden Ariel Sharon, veranstalteten die rechtsradikalen christlichen libanesischen Milizen dort veritable Massaker.

Kreisky sah sich nun nicht mehr als Vermittler im Nahost-Konflikt. Dafür sei er zu sehr Partei, stehe zu sehr auf der Seite der Palästinenser, sagte er. Über Arafat schwieg er. Sein Freund Sartawi wälzte dennoch Pläne, wie man die Sache der Palästinenser in Europa befördern könne. Beim palästinensischen Nationalrat in Algier im Jahr 1983 wollte er eine Erklärung abgeben, in der das Existenzrecht Israels anerkannt werden sollte. Arafat verbot ihm zu reden. Kreiskys Zuträger werteten das als ein Todesurteil. Sie sollten Recht behalten. Ein paar Wochen später wurde Sartawi erschossen.

„Arafat ist gescheitert“, stellte Kreisky in einem profil-Kommentar Ende 1983 verbittert fest. Aber auch mit Israel wollte er nichts mehr zu tun haben. Kreisky und Arafat trafen sich in der Folge noch ein paar Mal. Kreisky konnte nicht Nein sagen, als ihn israelische Familien baten, in einem Gefangenenaustausch zwischen Israelis und Palästinensern zu vermitteln. In öffentlichen Aussagen verhielt er sich Arafat gegenüber weit gehend loyal. Bei einem PLO-Kongress in Algier 1987 unterhielten sich die beiden nicht mehr ganz jungen Männer über schweres Essen am Abend und daraus resultierende Magenverstimmungen. Initiativen setzte Kreisky keine mehr. Daran war eine andere Art von Verstimmung schuld.