Braune Flecken: Rote Gewissenserforschung

Zeitgeschichte: Rote Gewissenserforschung Die SPÖ veröffentlicht geheime Protokolle

Rote Nachkriegspolitiker waren bei der NSDAP

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Es war sein erster Coup. „Beispielhaft“ nannte Altkanzler Franz Vranitzky die Rede seines designierten Nachnachfolgers Alfred Gusenbauer. „Ein Prozess, den man gutheißen, unterstützen und fördern muss“, lobte Ariel Muzicant, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Gusenbauer. „Anerkennende Worte auch von ÖVP-Generalsekretärin Maria Rauch-Kallat“, vermeldete die Austria Presse Agentur Lob für den roten Spitzenmann in jenem April des Jahres 2000, in dem noch zehntausende durch die Straßen Wiens zogen, um gegen die Wendekoalition zu demonstrieren.

Alfred Gusenbauer hatte kurz zuvor unter dem Eindruck der FPÖ-Regierungsbeteiligung im Parlament eine bemerkenswerte Rede über die Mitverantwortung der Österreicher an den Nazi-Gräueln gehalten und einen Akt der Selbstreinigung angekündigt: Die SPÖ werde die Rolle ihrer Nachkriegsfunktionäre während der NS-Zeit wissenschaftlich aufarbeiten. Alle Parteien sollten ihre Vorstandsprotokolle aus den Jahren nach 1945 veröffentlichen, schlug der neue Parteichef vor. Auf diese Weise werde dann der jeweilige Umgang mit der Geschichte Konturen gewinnen.

Gusenbauers Ruf blieb ungehört. Die ÖVP bestellte kühl, sie habe ihre Geschichte ohnehin schon aufgearbeitet und eine solche Offenlegung ergo nicht nötig. FPÖ-Klubobmann Peter Westenthaler meinte gar, in der FPÖ gebe es keine braunen Flecken. Eh nicht, weil sie ein großer brauner Fleck ist, erwiderte der Grüne Peter Pilz.

Jetzt liegt die Arbeit der von der SPÖ beauftragten Zeitgeschichtler vor, und das Ergebnis ist bemerkenswert: Die auszugsweise veröffentlichten Vorstandsprotokolle zeigen, wie uneinig sich die roten Gründerväter nach 1945 über den Umgang mit Ex-Nazis waren und welch fragwürdige Ansichten vor allem Anschlussbefürworter Karl Renner auch nach dem Zusammenbruch des großdeutschen Nazi-Reichs vertrat. Erstmals wurde der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder im höheren Funktionärskader quantifiziert. Ergebnis: Rund zehn Prozent der namhafteren Nachkriegs-Roten (Minister, Landesregierungsmitglieder, Abgeordnete in National- und Bundesrat, in den Landtagen, Parteivorstandsmitglieder) hatten eine Nazi-Vergangenheit. In der ÖVP, das erhoben die Zeitgeschichtler praktischerweise gleich mit, waren es sogar zwölf Prozent.

Die Protokolle. Die von der SPÖ beauftragten Historiker hatten ihre Texte im vergangenen April abgeliefert, diese Woche werden sie in Buchform erscheinen1).

Damit liegt gleichsam eine Trilogie zum Thema SPÖ & Nazis vor:
* Im Sommer 2002 stellte ein Autorenteam ein Projekt „Vermögensentzug und Restitution im Bereich der SDAP/SP֓ fertig. Der Endbericht wurde allerdings noch nicht veröffentlicht.

* Im Jänner 2005 stellte sich der Bund Sozialistischer Akademiker (BSA) seiner eigenen Vergangenheit, die von großzügiger Integration oft schwer belasteter Nationalsozialisten gekennzeichnet war (siehe profil 3/2005). Der Fall des BSA-Mitglieds Heinrich Gross, ehedem Euthanasie-Arzt am Wiener Spiegelgrund, war der Auslöser der selbstkritischen SPÖ-Analysen gewesen.

Die jetzt erscheinende Studie gibt erstmals einen Blick hinter die Kulissen der im April 1945 wieder gegründeten Sozialdemokratischen Partei frei, die sich bis 1991 Sozialistische Partei nennen sollte.

Schon in den ersten Wochen nach der Befreiung vom nationalsozialistischen Terrorregime brachen in der SPÖ schwere Differenzen zwischen dem nach wie vor marxistisch inspirierten linken Flügel – repräsentiert durch praktisch die gesamte Wiener SP – und den pragmatischeren Bundesländern-Roten aus.

Die Linken forderten drastische Maßnahmen gegen alle NSDAP-Mitglieder – unbeschadet, ob es sich um Mitläufer oder Bonzen handelte. Die Wiener Nationalratsabgeordneten Paul Speiser und Hilde Krones wollten die Ex-Nazis aus den Gemeindebauwohnungen delogieren. Der spätere Innenminister Josef Afritsch, der selbst lange in Nazi-Haft gesessen war, plante, Nazis mit einem Zuschlag zur Lohnsteuer zu bestrafen. Kurios die Idee des letzten Vorkriegs- und ersten Nachkriegs-Parteivorsitzenden Karl Seitz: Der ehemalige Wiener Bürgermeister regte allen Ernstes an, Geschäfte, die das Schild „An Juden wird nichts verkauft“ aufgestellt hatten, sollten dies – nun zur Abschreckung möglicher Kunden – wieder tun müssen.

Mitte Juni 1945 hatte sich der SPÖ-Vorstand auf eine Linie geeinigt: Die rund 600.000 österreichischen NSDAP-Mitglieder sollten fünf Jahre lang vom Wahlrecht ausgeschlossen bleiben, aus allen leitenden Stellen im öffentlichen Leben entfernt und zu einer höheren Einkommenssteuer verdonnert werden.

Das Papier stieß sofort auf herbe Kritik bei den roten Länderorganisationen, vor allem aber beim provisorischen Kanzler Karl Renner. Er verdammte die harte Parteilinie mit höchst fragwürdiger Diktion: „Hitler war ein Engel gegen dieses Werk. Er (Renner) würde sich schämen, wenn so etwas je beschlossen werden sollte“, vermerkt das SPÖ-Vorstandsprotokoll vom 3. September 1945. Renner verstieg sich in seiner Nazi-Verteidigung zu abstrusen Theorien. Das SPÖ-Protokoll: „Nicht die Nazis seien am Krieg und seinen Folgen schuld, sondern … wir als Marxisten müssen wissen … dass kapitalistische, imperialistische Spannungen daran schuld sind.“

Sühnemaßnahmen. Während der alte Renner spinnerten Theorien nachhing, argumentierten die Länder-Sozialisten handfester: Würde man den Vorstandsbeschluss umsetzen, müssten „60 bis 70 Prozent“ aller Lehrer außer Dienst gestellt werden, unkte der niederösterreichische SP-Abgeordnete Hans Brachmann. Auch in der Steiermark stießen die geplanten Sühnemaßnahmen gegen NS-Mitglieder auf Widerstand. Landesobmann Reinhard Machold berichtete am 24. September 1945 im Parteivorstand, er habe soeben erfahren, dass die ÖVP den in der Grazer Industriehalle inhaftierten Nazis in Briefen die Enthaftung verspricht, wenn sie der ÖVP beitreten. In der Folge intervenierte die steirische SPÖ selbst für hochrangige Nazis, obwohl der Parteivorstand in Wien jede Intervention untersagt hatte.

In Kärnten wohnten zwar nur sechs Prozent der österreichischen Bevölkerung, aber 15 Prozent aller österreichischen Nazis kamen aus dem südlichsten Bundesland. Entsprechend interessiert waren die Parteien an den „Ehemaligen“. Laut Angaben des damaligen Kärntner ÖVP-Obmanns Hermann Gruber setzte die Kärntner SPÖ die „Entregistrierung“ von 6000 Ex-Nazis durch, die ÖVP verschaffte sogar 8000 NS-Mitgliedern „Persilscheine“.

Dass die „Umerziehung“ so nicht funktionierte, zeigt ein Zwischenfall im April 1946: Auf Beschluss der Landesregierung mussten alle Schüler über 16 den Anti-NS-Film „Todesmühlen“ ansehen. Bei einer Vorführung für die HTL Klagenfurt skandierten plötzlich dutzende Lehrer und Schüler Nazi-Parolen. Sie wurden sofort von der Schule gewiesen und zu Straßenbauarbeiten verpflichtet.

Das Verhältnis vieler Sozialdemokraten zu den Nazis war noch vom Kampf gegen den Austrofaschismus geprägt, als sie oft gemeinsam mit illegalen Braunen in den Anhaltelagern des Ständestaats saßen. Als nun etwa im Zuge der Entnazifizierung der Bundesbahnen inzwischen der SPÖ beigetretene Ex-Nazis durch frühere Ständestaatsfunktionäre ersetzt wurden, stieß dies in der Partei auf großen Unmut.

Die Autoren der SPÖ-Studie fanden im SPÖ-Vorstandsprotokoll vom 8. Oktober 1945 in diesem thematischen Zusammenhang ein geradezu unglaubliches Zitat Karl Renners. Demnach stellte der Staatskanzler und zweimalige Republiksgründer fest, „dass, wenn die außenpolitischen Auswirkungen nicht dagewesen wären, mir der braune Faschismus lieber als der schwarze gewesen wäre“. Der damals schon in seiner Grausamkeit bekannte Holocaust schien Renner nicht weiter zu stören.

Aushöhlung. Die ÖVP war von Beginn an höchst differenziert vorgegangen: „Wir verlangen die Bestrafung aller Schuldigen und Großen und den Pardon für die Masse der Schwachgewordenen und Kleinen“, lautete die offizielle Linie.

Der ÖVP-Wahlsieg am 25. November 1945 wurde von der SPÖ als Bestätigung für diese Haltung verstanden. Die Position der Parteilinken verschlechterte sich damit schlagartig. Schon am 3. Dezember kündigte Parteiobmann Adolf Schärf im Vorstand unwidersprochen an, man werde sich gemeinsam mit der ÖVP für eine Lockerung des Verbotsgesetzes einsetzen. Dessen völlige Aushöhlung vor der Wahl 1949, als Ex-Nazis wieder wählen durften, war nur noch die logische Konsequenz.

Ein eigenes Kapitel der SPÖ-Geschichte und der neuen Studie ist die Parteipresse. Chefredakteur der am 5. August 1945 erstmals wieder erscheinenden „Arbeiter-Zeitung“ wurde der Niederösterreicher Heinrich Schneidmadl. Er hatte wie Renner den Anschluss begrüßt und vertrat schon in den ersten Ausgaben der „AZ“ eine dezidiert milde Haltung gegenüber den „Ehemaligen“. In der Redaktion brach daraufhin ein so vehementer Aufstand aus, dass sich die Parteispitze gezwungen sah, Oscar Pollak, Chefredakteur bis zum Verbot der Zeitung 1934, aus dem Londoner Exil zu holen. Fast drei Viertel aller Redakteure der „Arbeiter-Zeitung“ waren – meist aus „rassischen Gründen“ – in die Emigration gegangen. Viele nach New York emigrierte Journalisten hofften nun nach der Rückholung Pollaks, von der Parteiführung ebenfalls heimgeholt zu werden. Die Bemühungen des Ehepaares Pollak, dies durchzusetzen, scheiterten meist. Vor allem Schärf und SPÖ-Innenminister Helmer seien „bewusste Antisemiten“ und erpicht, „keine Talente hereinzubekommen“, schrieb Marianne Pollak im November 1945 an die New Yorker.

Bei den Parteiblättern in der Steiermark und in Kärnten waren mit Heinz Paller und Josef Kreutz von Beginn an ehemalige Mitarbeiter von NS-Zeitungen als Chefredakteure tätig.

Viele Belastete. Auch in anderen Bundesländern kamen nun nicht ganz lupenreine Antinazis an die Machthebel der SPÖ. Ludwig Leser etwa, schon vor 1934 Chef der burgenländischen Sozialdemokraten, war 1939 einige Wochen in Gestapo-Haft, dürfte dort aber zum Spitzel umgedreht worden sein. NSDAP-Mitglied war auch der spätere burgenländische SPÖ-Landeshauptmann Theodor Kery.

Hans Czettel, geboren 1923, von 1964 bis 1966 Innenminister und danach bis zu seinem Tod 1980 Landeshauptmannstellvertreter von Niederösterreich, war bei der HJ und ab 1941 Mitglied der NSDAP. Czettel wurde 1942 beim Kampf um Stalingrad schwer verwundet. In der Folge suchte er um eine Stelle bei der NSDAP-Gauleitung in Wien an, zog die Bewerbung aber wieder zurück. Entnazifizierungsakten Czettels fand das SPÖ-Projektteam nicht.

Schwerer belastet war der Oberösterreicher Franz Hellwagner, der von 1966 bis 1982 für die SPÖ im Nationalrat saß. Hellwagner war schon vor 1938 illegaler Nazi und – wie etwa der Vater Jörg Haiders – Mitglied der „österreichischen Legion“ gewesen, der „Exilorganisation“ der in Österreich verbotenen NSDAP. Nach 1945 wurde er als „belastet“ eingestuft, seiner SPÖ-Karriere schadete das nicht.

Verständlich angesichts des Umstands, dass nicht weniger als fünf Minister der ersten Regierung Bruno Kreiskys bei der NSDAP waren.

Einer davon, Landwirtschaftsminister Hans Öllinger, war seit 1937 bei der SS gewesen. Unter dem Druck der Öffentlichkeit trat der Salzburger wenige Wochen nach der Regierungsbildung im Mai 1970 zurück. Sein Nachfolger wurde mit Oskar Weihs ebenfalls ein Nazi der ersten Stunde. Sein NSDAP-Ausweis trug das Beitrittsdatum 1. August 1932. Bautenminister Josef Moser, geboren 1919, war erst im Mai 1938 der Nazi-Partei beigetreten. Auch Kreiskys Verkehrsminister Erwin Frühbauer hatte sich in den Reihen der NSDAP getummelt.

Ein besonderer Fall ist jener des roten Innen- und Verteidigungsministers Otto Rösch. Rösch, geboren 1917 in Wien, unterrichtete an der Nazi-Schule NAPOLA in Traiskirchen und wurde 1940 NSDAP-Mitglied. Nach 1945 arbeitete Rösch in der Zensurstelle der britischen Armee in Graz, trat der SPÖ bei und wurde Referatsleiter in der ÖVP-dominierten Heimkehrer-Hilfs- und Betreuungsstelle. Im Dezember 1947 wurde er unter dem Verdacht verhaftet, der „Gruppe Soucek“ anzugehören, einer Organisation, die hohen Nazis bei der Flucht ins Ausland half. Man hatte bei ihm einen Koffer mit gefälschten Ausweisen gefunden. Rösch rechtfertigte sich zuerst, er habe vom Inhalt des Koffers nichts gewusst; später gab er an, der rote Innenminister Helmer habe ihn als Spitzel in die Untergrundgruppe geschickt.

Rösch gehörte der Regierung Kreisky 13 Jahre lang an – vom ersten bis zum letzten Tag ihrer Regierungszeit.

In ihrer Zusammenfassung kommen die Autoren der SPÖ-Studie zu ernüchternden Schlüssen. Die Partei habe nach Bekanntwerden der NS-Vergangenheit ihrer Minister in den siebziger Jahren „öffentlich mit Dementis, Aggression und Diskussionsverweigerung reagiert“. Innerparteiliche Nachdenkprozesse habe es nicht gegeben: „Auf verstörende Weise weigerte sich die SPÖ, sich mit den Resultaten der mangelnden Entnazifizierung, an denen sie als eine der bestimmenden Kärfte der 2. Republik einen wesentlichen Anteil hatte, auseinander zu setzen, wenn diese in ihrem eigenen Bereich sichtbar wurden.“

Spät, aber doch tut Alfred Gusenbauer nun, was sein Idol Bruno Kreisky versäumt hatte.

Von Herbert Lackner