Österreichs Next Top-Aufdecker
Und dann muss es plötzlich schnell gehen. Eigentlich hat sich der Tag – ein Mittwoch im Mai 2025 – ganz geruhsam angelassen. Doch dann tröpfeln die ersten Hinweise ein: Hausdurchsuchung bei René Benkos Signa in Wien. Die Infos werden dichter, und bald liegen profil umfangreiche Durchsuchungsanordnungen auf Basis internationaler Rechtshilfeersuchen vor. Rasch ist klar, dass das eine große Sache ist. Und ebenso ist klar, dass bei einer prominenten Causa wie bei jener rund um Signa-Gründer Benko die Exklusivität nicht lange gegeben sein würde. Ein Online-Artikel muss raus. Und zwar möglichst schnell, möglichst umfassend – und natürlich korrekt.
Es sind Momente wie diese, in denen sich Investigativjournalismus heute ganz maßgeblich von jenem vor zehn bis 15 Jahren – und noch viel mehr von jenem vor 55 Jahren – unterscheidet. Zwar gab es auch zu damaligen Zeiten Fälle, in denen rasches Handeln vonnöten war – etwa wenn sich knapp vor Drucklegung etwas Bahnbrechendes ereignete. Trotzdem war es früher nicht ungewöhnlich, dass Aufdeckerinnen und Aufdecker zumindest einige Tage über brisanten Dokumenten brüten konnten, bevor sie zur Veröffentlichung schritten.
Der Autor dieser Zeilen erinnert sich etwa noch gut daran, dass er bei einem seiner früheren Arbeitgeber aus Produktionsgründen einmal drei Wochen lang auf einem höchst spannenden Aktenstück saß, bevor er die Recherche dazu endlich veröffentlichen konnte. Allein der Gedanke daran lässt auch heute noch Blutschweiß aufsteigen. Aber die Info hielt damals tatsächlich so lange – kein Konkurrenzmedium stach die Geschichte ab. Heute wäre das nahezu undenkbar.
Kurze Exklusivitätshalbwertszeit
Dafür gibt es zwei Gründe. Einer davon ist sehr österreichspezifisch: Im Zuge der großen türkis-blauen Affären der vergangenen Jahre sind routinierte Informanten – etwa aus der Politik oder aus dem PR-Bereich – teilweise dazu übergangen, heiße Neuigkeiten sofort und breit an mehrere Medien zu spielen. Dies wohl mit dem Hintergedanken, die Wahrnehmbarkeit der jeweiligen Story zu vergrößern. Der zweite Grund ist einer, der auf der ganzen Welt das Journalistendasein prägt, wenn nicht sogar neu definiert: die Digitalisierung.
profil wurde als Wochenmagazin gegründet. Jahrzehntelang galt der wöchentliche Redaktionsschluss der Printausgabe als der bestimmende zeitliche Faktor im Produktionsprozess. Aktuelle Ereignisse, die sich zu lange davor oder knapp danach abspielten, waren eher Beute für die Tageszeitungen. Als wöchentliches Medium konnte man dann durch weiterführende Recherchen punkten. Heute ist profil ein Wochenmagazin – und gleichzeitig auch ein permanent publizierendes Online-Medium. Es gibt keinen Grund, schnelle, spannende Infos der Konkurrenz zu überlassen. Da die anderen das auch wissen, ist freilich die Exklusivitätshalbwertszeit vieler Informationen drastisch gesunken. Wer vorn dabei sein will, muss heutzutage schnell sein. Schnell, aber trotzdem korrekt und idealerweise bereits im ersten Aufschlag mit möglichst großer journalistischer Tiefe.
Schnelle Eingreiftruppe
profil bündelt in solchen Stressmomenten personelle Ressourcen. Mehrere Kolleginnen und Kollegen bearbeiten unterschiedliche Aspekte. Textteile werden zusammengefügt. Jemand mit Gesamtüberblick, der sich schon lange mit dem jeweiligen Thema beschäftigt, sorgt für die End-kontrolle. Einen fertig geschriebenen Text dann online zu stellen, geht heutzutage innerhalb weniger Minuten.
Die Digitalisierung hat im Investigativjournalismus jedoch nicht nur zu einer bedeutend höheren Veröffentlichungsfrequenz geführt. Sie eröffnet auch völlig neue Recherchemöglichkeiten. In früheren Zeiten pilgerten Kolleginnen und Kollegen zum Handelsgericht Wien, um dort Papierakten aus dem Firmenbuch auszuheben. Heute ruft profil innerhalb von Minuten Firmeninformationen nicht nur aus Österreich, sondern zum Beispiel auch aus Deutschland, Italien, Großbritannien, Zypern, Malta und den Niederlanden ab. Schnelle, vernetzte Recherchen in öffentlichen Registern wie Firmen- und Grundbüchern, Medienarchiven und auf Social-Media-Kanälen wären vor 20 Jahren noch Science-Fiction gewesen, vor 15 Jahren galt man damit als Vorreiter, heute ist es Routine. Dazu kommen die riesigen Datenleaks der vergangenen Jahre – Stichwort „Panama Papers“, „FinCEN Files“, „Pandora Papers“ und viele „Files“, „Leaks“ und „Papers“ mehr. Naturgemäß gäbe es derartige Terabyte schwere Informationssammlungen ohne die fortschreitende Computerisierung gar nicht. Und wenn es sie gäbe, könnten sie weder geleakt noch zentral ausgewertet werden.
Generation Excel
Haben Sie schon einmal das Papierarchiv einer Offshore-Kanzlei aus der Karibik unter der Hand an Enthüllungsjournalisten weitergereicht? Dafür bräuchten Sie wahrscheinlich Lastwagen und Flugzeuge. Unauffällig geht das nicht. Und die Journalistinnen und Journalisten wiederum müssten jeden einzelnen Zettel lesen, anstatt Dateien nach Stichworten durchsuchen zu können.
Das hat freilich auch Schattenseiten. War es in früheren Zeiten das A und O des Investigativjournalismus, sich mit einem geheimen Top-Informanten bei Bier und Zigaretten die Nacht um die Ohren zu schlagen, sitzt man jetzt für eine Superstory mitunter wochenlang Nacht für Nacht vor dem Bildschirm. Dabei graut es manch älterem Semester schon beim Anblick einer vergleichsweise einfachen Excel-Tabelle. Junge Kolleginnen und Kollegen der Marke „Österreichs Next Top-Aufdecker“ – ja, profil hat mehrere davon – schreckt das hingegen gar nicht. Sie bauen gleich nebenher aus den ausgewerteten Informationen auch noch ausgefeilte Grafikelemente für die Online-Berichterstattung.
Globale Netzwerke
Rund um die gemeinsame globale Auswertung derartiger Daten-Leaks hat sich auch eine neue Grundhaltung im Investigativjournalismus eingestellt, die früher schwer denkbar gewesen wäre. Es geht dabei um umfassende journalistische Kooperation.
profil war in den vergangenen Jahren wiederholt Teil von Projekten des „International Consortium of Investigative Journalists“ (ICIJ) und des „Organized Crime and Corruption Reporting Project“ (OCCRP). Das sind Organisationen, die große Expertise im Organisieren globaler Recherchen aufweisen und solche mit handverlesenen Partnermedien in relevanten Ländern durchführen. Erst vor wenigen Wochen veröffentlichte profil zum Beispiel Recherchen aus dem ICIJ-Projekt „China Targets“. Dabei handelte es sich um eine monatelange internationale Kooperation zu den geheimen Auslandsstrategien des autoritären Regimes in Peking. Es geht bei solchen Kooperationen übrigens nicht immer nur um große Daten-Leaks. Auch im modernen Investigativjournalismus kommen klassische Recherchemethoden zum Einsatz – etwa Interviews mit Betroffenen.
Radikal teilen
Bei derartigen Projekten ist weltweit dann mitunter eine dreistellige Zahl an Journalistinnen und Journalisten an ein und demselben Themenbereich dran. Monatelang werden Rechercheergebnisse zusammengelegt. Dann veröffentlichen die Partnermedien zu einem vorher festgelegten Zeitpunkt Artikel zu den spannendsten Aspekten aus ihrer jeweiligen Länderperspektive.
In früheren Zeiten wäre das unüblich bis undenkbar gewesen. Eigene Informationen in einer Gruppe zu teilen, zu der mitunter auch Konkurrenzmedien gehören können, war in der investigativjournalistischen DNA schlicht nicht vorgesehen. Mit ein, zwei ausgewählten Partnern, die keine direkte Konkurrenz darstellten, vielleicht. Aber sicher nicht unter 40, 50 Medien aus aller Welt. Ohne das nunmehr geübte Prinzip des „radical sharing“ – so der Fachausdruck – wären Projekte, die eine globale Präsenz erzielen sollen, jedoch nicht wirklich umsetzbar.
Allerdings pflegt profil auch – zusätzlich zu den großen Investigativnetzwerken – direkte Kooperationen mit erprobten Partnermedien. Wirtschaftskriminalität, Spionage und auch Korruption machen oft nicht an Staatsgrenzen halt. Affären wie die um den Russland-Spion und früheren Wirecard-Manager Jan Marsalek oder um das Signa-Imperium von René Benko haben zum Beispiel starke Bezugspunkte nach Deutschland. In Fällen wie diesen recherchiert profil unter anderem häufig mit der „Süddeutschen Zeitung“.
Klag den Staat
Eine veränderte Grundhaltung in Bezug auf Informationen und deren Wert zeigt sich auch in einem anderen Bereich, der zum modernen investigativjournalistischen Leben gehört: Der „geheime Akt“, der „aus anonymer Quelle zugespielt“ wurde, galt bis vor nicht allzu langer Zeit als das höchste der Gefühle. Mittlerweile gibt es eine andere Informationsgattung, die in ihrer Bedeutung rasch aufschließt. Es geht darum, sich staatliche Informationen nicht immer nur unter der Hand zu besorgen, sondern Zugang zu diesen offiziell zu fordern und gegebenenfalls auch einzuklagen.
profil betreibt das seit zwei bis drei Jahren durchaus intensiv. Einerseits unter Nutzung der Auskunftspflichtgesetze des Bundes und der Länder, die im Herbst 2025 von einem neuen Informationsfreiheitsgesetz abgelöst werden. Andererseits durch punktuelle Datenbegehren auf anderer rechtlicher Grundlage. Je nach Verfahrensstadium sind dabei – teils umfangreiche – Schriftsätze zu verfassen oder mit der anwaltlichen Vertretung abzustimmen. profil-Journalisten haben aber auch schon selbst Verhandlungen vor Gericht durchgeführt, um ihren Standpunkt zu vertreten. In einem Fall hat zuletzt der Verfassungsgerichtshof nach einer profil-Beschwerde von Amtswegen ein Prüfverfahren eingeleitet, ob ein bestimmtes Bundesgesetz gegen die Verfassung verstößt.
Wer Zeit und Ressourcen in Anfragen und Gerichtsverfahren investiert, hat die Chance auf spannende Storys, öffnet damit aber auch Schritt für Schritt anderen Medien den gleichen Weg. Früher wäre das wohl an einer etwas kurzsichtigen Exklusivitätsmentalität gescheitert. Mittlerweile ist klar: Es gibt mehr spannende Informationen, als jemals berichtet werden können. Und im Sinne der nötigen Transparenz in Demokratie und Rechtsstaat ist es nur von Vorteil, wenn so viele wie möglich davon das Licht der Welt erblicken.