Nicolas Philibert erhält Goldenen Bären für den besten Film "Sur l'Adamant"
Kino

Der Goldene Bär der 73. Berlinale geht nach Frankreich

Nicolas Philiberts Psychiatrie-Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“ ist als Hauptpreisträger eine Überraschung. Aber auch sonst traf die Jury erstklassige Entscheidungen.

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Die neue Anerkennung des dokumentarischen Films, der im populären Kino lange eine Nischenexistenz geführt hat, überschattet von den leicht verfügbaren Fiktionsspektakeln der Bewegtbilderindustrie, scheint sich in diesen Tagen in großem Stil zu vollziehen. Wenn im Rahmen eines der großen europäischen Filmfestivals, wie nun geschehen im Finale der 73. Filmfestspiele in Berlin, mit Nicolas Philiberts „Sur l’Adamant ein Stück Non-Fiction mit dem Hauptpreis prämiert wird, so darf dies als klare Ansage gewertet werden. Und sie klingt umso überzeugender, als bereits die Kino-Mostra in Venedig im September 2022 mit dem Triumph einer dokumentarischen Arbeit (mit dem Goldenen Löwen für Laura Poitras’ Nan-Goldin-Porträt „All the Beauty and the Bloodshed) geendet hat.

Die Wahl eines Films, der nicht zu den ad hoc ins Auge springenden Werken des diesjährigen Berlinale-Wettbewerbs gehört hat, ist wohl auch als Gegenmaßnahme, als Widerrede zu begreifen; denn dem sich auf Blockbuster-Fantasy und adoleszentes Entertainment gefährlich verengenden Kinoregulärbetrieb setzen Filmfestivals als die entscheidende Bastion eines „erwachsenen“, formal und thematisch fordernden Kinos länger schon und systematisch etwas ganz anderes entgegen: das Fragile nämlich, die Schönheit des verschwindend Geringen, den präzisen Blick auf reale Menschen, ihre Träume und Lebensumstände.

Nicolas Philibert, 72, ist ein Veteran des französischen Dokumentarfilms und als solcher ein Humanist von Rang. „Sein und Haben“ (2002), die sensitive Bestandsaufnahme des Lebens in einer Volksschule am Land, war sein bislang größter Erfolg. Philiberts jüngstes Projekt, das die Aktivitäten in einer mitten in Paris, auf der Seine gelegenen psychiatrischen Station, einer Art schwimmender Tagesklinik verfolgt, in der die Betreuung psychisch Erkrankter niederschwellig und kommunal betrieben wird, unter anderem mit Workshops, Musik, Kochen und Diskussionsrunden, dieser Film zeigt die Vielfalt der Patientinnen und Patienten, deren Lebensgeschichten und Weltsichten; er baut potenzielle Ängste ab und reißt beherzt die Wände zwischen „Normalität“ und „Abweichung“ nieder: eine im Stil des Direct Cinemaganz auf die Menschen konzentrierte, fast schon zu harmonische Nahaufnahme einer Institution. 

Christian Petzold

Die Berlinale-Jury unter dem Vorsitz der US-Schauspielerin Kristen Stewart hat auch sonst überraschende Entscheidungen getroffen, in vielfältiger Weise die Rosinen aus einem durchwachsenen Wettbewerb gepickt und mit Silbernen Bären belohnt. Christian Petzolds erstaunlicher neuer Film etwa, die Twentysomethings-Tragikomödie „Roter Himmel“, wurde sehr zu Recht mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet; die erst ganz am Ende ins Dramatische abzweigende Erzählung ist exzellent geschrieben, besitzt viel subtilen Witz (auch dank des fabelhaften Ensembles, aus dem der junge Wiener Thomas Schubert herausragt) – und erscheint ganz schwerelos inszeniert. Der Preis für das beste Drehbuch blieb ebenfalls in Berlin, er ging an die Regisseurin Angela Schanelec, die den definitiv eigenwilligsten Film dieses Wettbewerbs vorgelegt hat, ihre ebenso ätherische wie mysteriöse Ödipus-Variation namens „Music“.

Der Portugiese João Canijo erhielt den Preis der Jury für sein psychologisches Hotelvexierspiel und Mütter-Töchter-Drama „Mal viver“. Die legendäre französische Autorenfilmer Philippe Garrel wurde als bester Regisseur für seine hauchzarte, autobiografisch getönte Familienaufstellung „Le grand chariot geehrt, die Schauspielerinnen Sofía Otero und Thea Ehre, eine junge oberösterreichische Transfrau, sahen sich für ihre Performances in den Filmen „20.000 Bienenarten“ und „Bis ans Ende der Nacht“ gewürdigt. Otero wurde zur wohl jüngsten Preisträgerin in der Geschichte des Festivals: Die Spanierin ist erst acht Jahre alt. Ein Silberner Bär für eine herausragende künstlerische Leistung ging zudem an die große französische Kamerafrau Hélène Louvart („The Lost Daughter“; „Glücklich wie Lazzaro“) für ihre bestechende Fotografie der Migrations- und Fremdenlegions-Fantasie „Disco Boy“.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.