Laura Poitras Goldener Löwe "All the Beauty and the Bloodshed"
Film

Goldener Löwe für Laura Poitras: Politische Sprengkraft am Lido

Der Goldene Löwe der Filmfestspiele Venedig 2022 ging an einen kämpferischen US-Dokumentarfilm. Zwei Filme aus Österreich setzten sich in den Nebenschienen durch.

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Auch wenn sich im diesjährigen Wettbewerbsprogramm der altehrwürdigen, vor genau 90 Jahren begründeten Filmfestspiele am Lido am Ende kein unumstößliches, konsensfähiges Meisterwerk finden ließ: Die Qualität des Aufgebots erschien mehr als respektabel, ein knappes Dutzend jener 23 Produktionen, die im Kampf um den Goldenen Löwen aufgeboten wurden, blieb in bester Erinnerung – darunter etwa eine der raren halbfiktionalen Arbeiten des großen US-Dokumentaristen Fred Wiseman („Un couple“), Joanna Hoggs subtile Geistergeschichte „The Eternal Daughter“ und Noah Baumbachs grelle Retro-Apokalypse „White Noise“ nach Don DeLillo.

Sie alle bleiben am Samstagabend jedoch ungekürt, da die Jury unter der Schauspielerin Julianne Moore noch höher zielte: auf die Verschränkung von ästhetischem Anspruch und politischer Sprengkraft nämlich. Und sie wagte Überraschendes, indem sie den Hauptpreis des Festivals, den Goldenen Löwen, an Laura Poitras’ Dokumentarfilm „All the Beauty and the Bloodshed“ vergab. Die amerikanische Regisseurin spezialisiert sich auf politische Arbeiten, hat Filme über den Irakkrieg gedreht sowie die Whistleblower Edward Snowden und Julian Assange porträtiert. Nun hat sie sich der aus der Fotografie kommenden Künstlerin Nan Goldin genähert, deren Kampf gegen den millionenschweren Pharmakonzern der für die Opioidkrise hauptverantwortlichen Sackler-Familie sie über Jahre begleitet hat.

Ein großer Abwesender des Abends war der iranische Regiestar Jafar Panahi, dessen mutiges (und friedliches) Engagement für seinen inhaftierten Kollegen Mohammad Rasoulof ihn Mitte Juli  – nicht zum ersten Mal – ins Gefängnis brachte. Seinen gewohnt komplexen und stark selbstreflexiven jüngsten Film, „No Bears“, in dem er selbst schwermütig die Hauptrolle spielt, zeichnete die Jury mit ihrem Spezialpreis aus; ein deutliches Zeichen an das repressive iranische Regime. Gleich zwei gewichtige Preise fasste die französische Filmemacherin Alice Diop aus; ihr elegantes, stark reduziertes Gerichtssaal- und Rassismusdrama wurde nicht nur als bestes Spielfilmdebüt gewürdigt, sondern auch mit dem Silbernen Löwen, dem Großen Preis der Jury. Ebenfalls je zweimal prämiert wurden Martin McDonaghs finstere irische Dorfkomödie „The Banshees of Inisherin“ (bestes Drehbuch und Colin Farrell als bester Schauspieler) sowie Luca Guadagninos Kannibalen-Romanze „Bones and All“ (beste Regie und beste junge Schauspielleistung: Taylor Russell). Die australische Charakterdarstellerin Cate Blanchett wurde, sehr zu Recht, für ihre prägnante Performance als egomanische Dirigentin in „Tár“ als beste Schauspielerin ausgezeichnet.

Aus österreichischer Sicht hätte es besser nicht laufen können: Beide Beiträge zum diesjährigen Programm – sie liefen abseits des Wettbewerbs – wurden am Ende ausgezeichnet. Nicht nur gewann David Wagners sympathisches und kompetent gefertigtes Regiedebüt „Eismayer“ – die Geschichte des Outings eines hartgesottenen Militärausbildners (stark: Gerhard Liebmann) – den Großen Preis der autonomen, parallel zur Mostra laufenden Nebensektion Settimana della Critica; auch in der Innovativkino-Schiene Orizzonti reüssierte ein ebenso berührender wie ästhetisch hochklassiger Film aus Österreich: Tizza Covis und Rainer Frimmels „Vera“, eine semidokumentarisch angelegte Hybriderzählung vom ruinösen Leben der Tochter des einstigen italienischen Filmstars Giuliano Gemma (profil berichtete), hätte auch im Wettbewerb dieses Jahrgangs zu dessen stärksten Arbeiten gehört. Hauptdarstellerin Vera Gemma wurde zur besten Orizzonti-Schauspielerin erklärt, das Duo Covi/Frimmel zu den besten Regiekräften dieser Sektion. Als besten Film wählte man ein iranisches Werk, in dessen Titel die dunkle Zeit, in der wir leben, mitschwingt: Houman Seyedis „World War III“.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.