Nah an den Menschen. „Ta’ang“ von Wang Bing.

Berlinale: Wenn der Krieg zu nahe rückt

Berlinale: Wenn der Krieg zu nahe rückt

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Dokumentarfilme finden in den Wettbewerben der großen Festivals selten ihren Platz. Wenn Gianfranco Rosis neue Arbeit nun im Programm der Berliner Filmfestspiele dennoch um den Goldenen Bären rittert, hat dies einen sehr guten Grund: sein Thema.

Fuocoammare“ (Feuer am Meer) ist ein dokumentarisches Stück über den Zustrom Geflüchteter und das Alltagsleben auf der kleinen italienischen Insel Lampedusa. Das setzt, zunächst einmal weit jenseits von Qualitätskriterien, ein sich seit je als politisch begreifendes Festival unter Zugzwang – gesellschaftliche Aktualität schlägt poetisch-weltferne Kinokunst.

Dabei ist „Fuocoammare“ alles andere als kunstlos. Rosi, Regisseur der Mörder-Doku „El Sicario, Room 164“ (2010) und der exzentrischen Rom-Passage „Sacro GRA“ (2013), nähert sich auch der Flüchtlingskrise in seinem gewohnten Stil: Er blickt auf den täglichen Lebensvollzug schrulliger Inselbewohner, begleitet sie auf Spaziergängen, an ihre Arbeitsplätze und in ihre Eigenheime, und sie alle geben sich, als wären sie ganz unbeobachtet, versunken in ihre Pflichten, Gespräche und Freizeitgestaltungen.

Der zwölfjährige Samuele ist die Leitfigur des Films: ein altklug-charmanter kleiner Streuner, der sich in den Wäldern herumtreibt, von Waffen träumt, aber an Atemnot und Beklemmungen leidet. Die ankommenden Flüchtlinge – und dies ist das wohl größte Manko des Films – bleiben dagegen weitgehend entindividualisiert, werden lediglich als Gruppe dargestellt, als Ansammlung von Fremden, die man in Serie durchleuchtet und durchsucht, registriert und weiterschickt. Zwar weist Rosis Film für sie ein hohes Maß an Empathie auf, zeigt den Schmerz in den Gesichtern der Ankommenden, schreckt nicht davor zurück, die versehrten, auch die toten Körper ins Bild zu rücken, aber sein Thema scheint ihn dann doch zu überfordern: Es ist möglicherweise zu gewaltig für einen Chronisten der Surrealismen des Alltags und der kleinen Grotesken, die darin zu finden sind. Aber „Fuocoammare“ hat ein paar wirklich große Momente, etwa jenen, in dem einer der Schutzsuchenden den Leidensweg, die mörderische Reise, die er hinter sich hat, in einer Art Rap musikalisch zusammenfasst. Mit einem Hauptpreis der diesjährigen Berlinale wird dieser Film, aus guten und weniger guten Gründen, rechnen können.

Auf der Suche nach Schutz vor den Zumutungen des Krieges.

Ein zweiter großer Name des internationalen Dokumentarfilms taucht im Programm der „Forum“-Nebenschiene des Festivals auf: Wang Bing, einer der bedeutendsten Filmemacher Chinas, legt mit „Ta’ang“ eine weitere seiner Sozialstudien vor, in unaufdringlichem, mitunter fast unbearbeitet wirkendem Fly-on-the-wall-Stil – und auch sie dreht sich um die Fluchtbewegungen bedrohter Familien, um die tägliche Improvisation auf der Suche nach Schutz vor den Zumutungen des Krieges.

Mit „Tie Xi Qu: West of the Tracks“, einem monumentalen, über neunstündigen Werk zur sterbenden Schwerindustrie und zum Leben von Fabrikarbeitern in China, hatte Wang 2002 erstmals auf sich aufmerksam gemacht. Er ist grundsätzlich ganz nah an den Menschen, die er filmt, auch in diesem Fall – und er nimmt sich dabei einer Flüchtlingskrise an, die es nicht in die Headlines der Weltnachrichten geschafft hat: die Verfolgung einer ethnischen Minderheit in Myanmar namens Ta’ang (auch genannt Palaung oder De’ang). Wang begleitet die prolongierte Wanderung einer Gruppe von Menschen über die Grenze nach China angesichts der immer wieder aufflammenden Kriegshandlungen, hört ihnen zu, wie sie am Lagerfeuer ihre Geschichten erzählen, und zeichnet auf, mit welcher Schicksalsergebenheit und inneren Ruhe sie ihren täglichen Kampf um die Notquartiere in den Flüchtlingslagern oder unterwegs, unter einem Holzverschlag irgendwo in den Bergen, führen, während die Bombeneinschläge immer näherzukommen scheinen.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.