Es mag jetzt kontraproduktiv sein, als Beispiel Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ anzuführen, aber tatsächlich provozierte der Freitod des liebeskranken Protagonisten nach der Publikation eine Welle von Nachahmern. Hat jedoch irgendjemand Bret Easton Ellis dafür geteert und gefedert, als er Anfang der 1990er-Jahre mit „American Psycho“ einen markenaffinen Yuppie-Serienkiller porträtierte? Oder nur ansatzweise die Vermutung geäußert, dass der damalige Superstar der Popliteratur keinerlei Berechtigung habe, einen solchen Blutrausch in einem inneren Monolog zu beschreiben, da er ja selbst nie gemordet habe? Wahrscheinlich würde sogar Truman Capote heute mit „Breakfast at Tiffany’s“ unter das Cancel-Beil fallen, da er sich mit der Figur der Holly Golightly diese identitätspolitisch voll angeeignet hat. Genug davon, denn prinzipiell muss Literatur natürlich alles dürfen. Vor allem muss sie uns in Gegenwelten und in die Köpfe ihrer Protagonistinnen und Protagonisten führen.
Jetzt könnte man kalmierend einwerfen, dass es doch als ein durchaus beruhigendes Signal zu werten ist, wenn ein Buch wie „Die Assistentin“ im Bedeutungsfitnesscenter der sozialen Medien, vor allem auf Instagram und BookTok, solche Wellen und Polarisierungsdebatten hochschlagen lässt. Schluss also mit dem Lamento, dass das Lektürebedürfnis der GenZler und Millennials vor allem auf die Scrolling-Promenaden ihrer Smartphones beschränkt sei. Es wird wieder gelesen, dass die E-Reader glühen, das analog-schrullige Konzept des Buchclubs oder Lesezirkels, wie esliteraturambitionierte Damen bei Likörchen und Keksen im Prä-Internet-Zeitalter gepflogen haben, wird auf das 2.0-Level transformiert und zum massentauglichen Popkultur-Phänomen.
Allerdings mit sehr viel Schaum vor dem Mund. Was auch damit zu tun hat, dass Caroline Wahl sich nicht wie Sally Rooney benimmt, jene international megaerfolgreiche irische Schriftstellerin, deren Spezialgebiet der Weltschmerz der GenZ ist. Rooney lebt zurückgezogen, ohne Accounts auf sozialen Medien in gedeckten Farben in einer irischen Kleinstadt. Caroline Wahl bleibt zwar in Kiel, aber sie trägt Bling-Bling-Klamotten, Prada-Sonnenbrillen und feiert ihren erschriebenen Reichtum (der Vorschuss soll eine knappe Million Euro betragen haben) mit fetten Autos und keinerlei Schamgefühl, ihre Lust am Konsum zu verbergen. Tatsächlich benimmt sie sich eigentlich, wie Popstars das seit Jahrzehnten tun: Sie steht auf Glamour, bespielt die Öffentlichkeit (Instagram: 58.500 Follower) so wirksam wie sonst nur ihre Autorinnen-Kollegin Sophie Passmann und hält mit ihrer Selbst-sicherheit auch nicht hinterm Berg: „Wenn ich eine Sache weiß, dann, dass ich gut erzählen kann.“ Und: „Falsche Bescheidenheit vorzutäuschen, da hab ich keinen Bock drauf.“ Sie verlieh ihrer Wuttrauer Ausdruck, nicht für den Deutschen Buchpreis nominiert worden zu sein. Manchmal ruft sie nur: „What the fuck!“, weil es tatsächlich die Härte sein muss, mit diesem Meinungs-Overkill umgehen zu müssen.
Dass es wieder keine Nominierung gab, hat wahrscheinlich damit zu tun, dass im deutschsprachigen Feuilleton, ganz anders als im angloamerikanischen Raum, noch immer der E- und U-Graben in der Literatur klafft: Die Initialen stehen für „ernsthafte“ und „unterhaltsame“ Literatur. Und an ebendieser Schnittstelle befinden sich die Bücher der Caroline Wahl. Was ihre Schöpferin offensichtlich für das Feuilleton suspekt macht. Bleiben wir dann doch kurz beim Roman „Die Assistin“ selbst, wo sich ja die wenigsten der selbst ernannten Moralapostel länger aufhalten.
„Die Assistentin“ ist ein wirklich unterhaltsames Buch, das so viel Vergnügen wie eine gut gemachte Netflix-Serie bereitet. Der verbale Wahl-Flow trägt einen, die zahlreichen popkulturellen Anspielungen (zum Beispiel auf „Der Teufel trägt Prada“) sind höchst vergnüglich, aber den Vorwurf, dass die Story etwas dünn sei, denn irgendwann ist der narzisstische Chef mit all seinen toxischen Macken auserzählt, kann man doch nachvollziehen.
Diese Bedenken scheinen auch seine Schöpferin befallen zu haben, aber Wahl begegnet ihnen mit einem originellen Trick. Sie schreibt im Kapitel 12 auf Seite 110: „Wieso nicht einfach hier in die Schlusskurve einbiegen? Charlotte geht nach der ersten Kündigung zurück nach Köln. Sie hat ja gemerkt, dass das ein Scheißladen ist. Basta. Novellenlänge erreicht. Aber Novellen verkaufen sich nicht gut und sind auch irgendwie scheiße.“
Caroline Wahl hat also Selbstironie und Humor. Was ihr möglicherweise in der E-Fraktion wieder Minuspunkte einträgt. Sie schreibt übrigens bereits an ihrem vierten Roman. Und postet auf ihrem Account, auf carowahl: „stillhalten, aushalten, zurückhalten, sagen alle. das gehört zum erfolg dazu, die sind neidisch, ist halt so, blablabla... nö.“