Die letzte Zeugin der "Mühlviertler Hasenjagd"

Im Februar 1945 wurden bei der sogenannten "Mühlviertler Hasenjagd" über 500 sowjetische Kriegsgefangene getötet.

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Anna Hackl erzählt eine Geschichte, die nicht zu dem aufgeräumten Wohnzimmer mit den Häkeldecken passen will. Sie ist 87 Jahre alt, die Letzte aus der Familie Langthaler, die im Februar 1945 unter Lebensgefahr zwei geflohene KZ-Häftlinge auf ihrem Hof versteckte. Es ist eine Geschichte von Menschenhatz und Mitmenschlichkeit, von Hass und Hoffnung. Sie führt zurück in eine Zeit, als jeder des anderen Feind und keinem Menschen zu trauen war.

Evelyn Steinthaler und Thomas Fatzinek sitzen an einem sonnig-winterlichen Freitagnachmittag links und rechts von Hackl auf der Wohnzimmerholzbank. Die Wiener Autorin und der Linzer Zeichner sind im Begriff, aus Hackls Geschichte eine Graphic Novel zu machen, die im Frühjahr 2020 erscheinen soll, 75 Jahre nach Kriegsende und der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen, 85 Jahre nach Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze. Steinthaler, 47, hat Bücher über die Liebe unter dem Hakenkreuz, den Tenor Richard Tauber und das NS-Massaker auf dem Kärntner Peršmanhof geschrieben.

Fatzinek, 53, veröffentlichte die gezeichneten Biografien des Auschwitz-Überlebenden Hermann Langbein und der 1942 ermordeten Schauspielerin und Schriftstellerin Lili Grün. In dem Büchlein mit dem hübschen Titel "Die Schönheit der Verweigerung" setzte Fatzinek den Widerständlern gegen das NS-Regime im Salzkammergut ein kleines Denkmal. "Comics kannte Anni nur als übliche Strips in Zeitungen", erinnert sich Steinthaler an den Beginn der Arbeit an der Graphic Novel über die letzte Zeugin. "Sie benötigte keine langen Erklärungen. Nach zehn Minuten war sie von der Idee überzeugt." Zwischen Steinthaler und Fatzinek wirkt Hackl winzig, eine schmale Frau mit runden Schultern und mächtigem Metallkreuzanhänger.

Vor 25 Jahren kam Andreas Grubers Film "Hasenjagd - Vor lauter Feigheit gibt es kein Erbarmen" in die Kinos, der im österreichischen Geschichtstableau für die Verstrickung der Zivilbevölkerung mit dem NS-Regime steht. Der Historiker Matthias Kaltenbrunner schreibt in "Flucht aus dem Todesblock", dem besten Buch über den Massenausbruch sowjetischer Offiziere aus dem Block 20 des KZ Mauthausen und der anschließenden Menschenhatz in den Februartagen des Jahres 1945, von der SS zynisch "Hasenjagd" getauft: "In diesen allerersten Tagen der , Mühlviertler Hasenjagd' gab es nur ganz wenige, die anders handelten als alle anderen und - im Bewusstsein, das eigene Leben und das der Familie zu gefährden - Flüchtige unterstützten." Mehr als 500 Rotarmisten flüchteten aus dem Lager, acht Überlebende sind namentlich bekannt; von vier weiteren Männern nimmt man an, dass sie die Flucht überstanden haben könnten.

Seit 1995 hat Hackl viele Schulen besucht, um vom Damals zu erzählen. Man hört ihr bis heute gebannt zu. Sie klopft oft mit den Fingerknöcheln auf den Holztisch in der Stubenecke, fuchtelt eckig mit den Händen. Sie hat vor sich Fotos ausgebreitet, auf denen ihre Eltern, ihre acht Geschwister und Michail und Nikolaj zu sehen sind, die beiden russischen Geflüchteten aus Mauthausen, denen die Langthalers Unterschlupf gewährten. Michail und Nikolaj waren wie ihre 500 Mitgefangenen sogenannte "K-Häftlinge", benannt nach dem "Kugel-Erlass" der SS von März 1944, einer von langer Hand geplanten Mordaktion an russischen Inhaftierten. Die Fotos auf dem Tisch sind die stummen Zeugen der Zeit, die Menschen auf den Bildern alle tot. Suchte man einen Ort, an dem sich Geschichte dennoch lebendig erhalten hat, man fände ihn in diesem Wohnzimmer, in dem vor 74 Jahren noch Michail und Nikolaj saßen.

Anna Hackl erzählt, als hätten sich die Ereignisse gestern erst abgespielt. "Wir waren eine große Familie. Neun Kinder. Sechs Söhne und drei Töchter. Theresia, Hans, Franz, Karl, Alois, Maria, Alfred, Josef und ich, die Jüngste. Dann kam der Hitler. Die Menschen voller Begeisterung. Endlich der Mann, der alles zum Guten wendet, schwärmten sie. Meine Mutter mochte den Hitler nicht. Sie sagte, der bringe nur Unheil. Bei uns gab es kein Hitler-Bild an der Wand, wir hissten keine Hakenkreuzflagge. Sechs Buben waren da, als Hitler mit dem Krieg anfing. Vier mussten gleich einrücken, Josef, der Jüngste, erhielt mit 16 kurz vor Kriegsende den Befehl. Alfred durfte bleiben, weil er mit 14 bei einem Dreschunfall ein Auge verloren hatte. Er musste zum Volkssturm. Die Mutter schwor, dass jeden Tag jemand von uns in die Kirche geht, damit alle Söhne wieder nach Hause kommen werden."

Die Nacht zum 2. Februar 1945, Ausbruch der russischen Offiziere aus dem Block 20. "Sirenengeheul überall, mit Lautsprechern sind die Truppen durch die Ortschaften gefahren. Lauter Schwerverbrecher seien entflohen, schrien sie, alle müssten erschlagen, erstochen, erschossen werden. Wehe, wenn irgendwer Kleidung und Essen hergibt! Schrecklich und eine Schande war, dass die Zivilbevölkerung bei der Menschenjagd derart mitgemacht hat." Für Annas Mutter Maria, eine tiefreligiöse Frau, war tatenloses Zusehen Frevel.

Anna Hackl erinnert sich: "Viele Russen wurden erstochen und erschlagen und erschossen. Meine Schwester Maria sah auf dem Nachhauseweg von der Kirche, an dem Tag lag viel Neuschnee, Tote auf der Straße, die Füße zusammengebunden. Die Straße, sagte sie bei uns in der Stube, sei eine Blutstraße gewesen."

Michail und Nikolaj retteten sich am Morgen des 2. Februar auf den Heuboden der Langthalers, Winden Nr. 29, einen Weiler oberhalb der Gemeinde Schwertberg, in jenes Haus, das Anna Hackl bis heute bewohnt. Der Herrgott habe sie an diesem Tag, dem Bauernfeiertag St. Blasius, beim Schopf gepackt, sagt Hackl. "Gegen halb sieben in der Früh klopfte es an der hinteren Tür. Da steht einer draußen in froststarrer Winterkälte, einen Hut tief in die Stirn gezogen, eingehüllt in eine zerschlissene Decke, ein Paar zu große Schuhe an den Füßen. Nie haben wir herausbekommen, woher er die Kleidung hatte. Er sei Dolmetscher und komme aus Linz, sagte er zur Mutter. Die nahm ihn an der Hand und antwortete, sie wisse, wer er sei, auch sie habe Kinder im Krieg - und er eine Mutter, die auf ihn in Russland warte." SS und Volkssturm durchkämmten in den Tagen darauf die Gehöfte der Gegend. "Meine Schwester hatte Michail und Nikolaj Essen auf den Heuboden gebracht, wo die beiden in den ersten Tagen Unterschlupf fanden. Am 4. Februar begleitete ich meine Eltern in die Sonntagsmesse, als uns hügelan eine SS-Abteilung mit Hunden entgegenkam. Die Mutter, voller Angst:,Mein Gott, jetzt ist es aus mit uns! Das Essgeschirr! Nannerl, lauf, du musst uns das Leben retten! Du musst die Daheimgebliebenen warnen!' Ich rannte und rannte. Auf dem Hof angekommen, räumten meine Schwester und ich das Essgeschirr schnell weg und versteckten Michail und Nikolaj im Heu. Später erzählten die beiden, sie hätten das Gewicht der SS-Männer und der Hunde, die das Heu durchsuchten, gespürt."

An die Suchaktion des Volkssturms auf dem Langthaler-Hof am Montag darauf erinnert sich Hackl so: "Mein Bruder Alfred, der beim Volkssturm war, warnte uns. Seit drei Tagen waren Michail und Nikolaj bei uns, und ich wusste noch immer nicht ihre Namen. Wieder scheuchten wir sie regelrecht nach oben, diesmal aber nicht mehr ins Heu, sondern auf den Hausboden. Die Hausdurchsuchung verhinderten wir durch eine List. Wir waren damals berühmt für unseren Most. Die ganze Küche war voll mit SS, Volkssturm, Hunden. Mutter servierte Brötchen, die Razzia blieb aus." Noch heute nennt Anna Hackl die beiden Überlebenden meist bei deren Vornamen, als seien sie ihre Brüder. Michail Rybčinskij war damals 30, Nikolaj Cemkalo 22 Jahre alt.

Der Wahnsinn des Krieges kehrte das Unterste nach oben. Grenzen verschwammen, lösten sich auf. Maria Langthalers Sohn Alois hatte sich freiwillig zur SS gemeldet. Er war Wachmann im KZ Oranienburg und kam später als Stabsfeldwebel der Waffen -SS an die Ostfront. Johann jun., der älteste der Brüder, wurde im Osten verwundet und später nach einem Aufenthalt im nahegelegenen Lazarett Perg nach Hause verlegt. Michail und Nikolaj wurden vor ihm wochenlang verborgen. Jeder Mitwisser bedeutete Gefahr. "Mich hat die ganze Familie gefürchtet, weil ich jeden Tag in die Schule musste", sagt Anna Hackl. "Mit meinen dreizehneinhalb Jahren lernte ich damals aber schnell, dass ich nichts sagen darf, dass es ums Leben geht." Josef, den jüngsten Sohn der Langthalers, überredete die Mutter zur Desertion. Nach Erhalt des Einberufungsbefehls zu einer Panzerdivision nach St. Pölten versteckte die Mutter Josef bei Michail und Nikolaj auf dem Hausboden. Fahnenflüchtigen drohte die sofortige Erschießung. "Michail sagte zu meiner Mama:,Mutter, wir beide, Nikolaj und ich, wir waren schon tot. Josef ist hier oben in großer Gefahr. Wir gehen deshalb.' Natürlich ließ die Mutter die beiden nicht gehen." Anna Hackl sagt oft "Wunder", wenn sie über ihre Brüder spricht. Alle kehrten nach 1945 heil zurück. In ihrer Stube gibt es viele Fotos mit den Geschwistern , auf denen sie aussehen, als ob sie ihr Glück nicht fassen könnten. Die ständige Angst in den Februartagen 1945, entdeckt zu werden. Das Dorfwirtshaus ums Eck, die Gehöfte der Nachbarn. Die Häuser standen damals noch weiter voneinander entfernt, aber nah genug, um jederzeit Misstrauen zu wecken. Wären sie aufgeflogen, hätte man sie noch am letzten Kriegstag nach Mauthausen geschickt, sagt Hackl.

Mit Pappdeckeln mussten die Fenster lichtdicht vor Fliegerangriffen verdunkelt werden, weshalb sich Michail und Nikolaj im Haus frei bewegen konnten. In der Nacht schliefen sie auf Heusäcken in einem Verschlag auf dem Hausboden. "Unsere Parole lautete: Alle Türen geschlossen halten! Bald halfen die beiden meiner Schwester im Stall. Sie lösten Berge von Vogelfedern vom Kiel. Lösten Bohnen aus den Schoten. Im Stall sangen Maria und Michail Lehárs ,Wolgalied'. Sie auf Deutsch, er auf Russisch." Für Klein-Anna bastelten Michail und Nikolaj ein Kaleidoskop aus Zeitungspapier und Glasscherben. "Meine sowjetischen Brüder", sagt Hackl.

"Bei uns hier oben wurden keine Häftlinge ermordet, außerhalb hat sich fürchterlich viel abgespielt. In unserer Nachbarschaft konnten wir beobachten, wie Russen gestellt wurden. Später wurden sie im Gemeindehof in Schwertberg von einem Schwertberger erschossen. Ich nenne aber keine Namen." Leopold Böhmberger, der Gemischtwarenhändler der Ortschaft, geriet über die Festnahme der Russen derart in Rage, dass er die Wehrlosen eigenhändig erschoss. Es heißt, er habe später zu seiner Frau gesagt, sie könne auf ihn stolz sein.

Steinthaler hakt viel nach. Fatzinek hört mit großen Augen zu. "Annas Geschichte erzählt viel von Mut", wird Steinthaler später sagen. "Vom Mut der sowjetischen Kriegsgefangenen und ihrer Flucht unter Todesgefahr. Von dem Mut der Familie Langthaler, die alles riskierte. Diese Geschichte lehrt uns, dass Risiko zum Leben gehört. Wir dürfen uns in unserem Zeitalter des Neo-Biedermeier nicht noch mehr auf das Private, das vermeintlich unpolitisch ist, zurückziehen. Man muss sich nicht gleich in Lebensgefahr begeben, es gibt auch so genug zu tun: Engagieren wir uns, gehen wir in Altersheime, kümmern wir uns um Geflüchtete oder Wohnungslose." Fatzinek sagt: "Das Grauen darzustellen, ist nie leicht. Es geht ums Ausprobieren. Um den respektvollen Umgang mit den Ermordeten. Leichenberge kann man zeichnen, muss man aber nicht. Dürfen darf ich in meiner Arbeit alles. Die Frage lautet: Was kann ich vor mir selbst verantworten? Ich zeichne nicht für das Gaudium von Comic-Fans."

Mai 1945. Am ersten Sonntag nach der Befreiung ging die Familie Langthaler nach dem Kirchenbesuch zum Fotografen nach Schwertberg, nach zweieinhalb Monaten des Versteckens und Verbergens, als stolze Überlebende unter der Weite des Himmels. Anna Hackl deutet auf das Bild, auf dem die Langthalers , Mutter Maria, Vater Josef, Sohn Alfred, die Töchter Maria und Anna gemeinsam mit Michail und Nikolaj zu sehen sind, starr wie Statuen, die Gesichter wie eingefroren unter dem Eindruck des erlebten Entsetzens.

Bald folgten die anonymen Beschimpfungen und Drohungen. "Briefe lagen vor der Haustür, in denen man uns den Tod an den Hals wünschte, es stand da zu lesen, wir sollen krepieren, der Hass war so groß." Hackl scheucht diese Erinnerung mit einer Handbewegung aus dem Zimmer, mehr will sie dazu nicht sagen. Es war damals leicht, die Gegend tief im Oberösterreichischen schrecklich zu finden. Evelyn Steinthaler sagt: "Anni ist nie verstummt, sie hat nie den Mund gehalten. Sie sagte, was war. Sie sagt, was ist. Durch das kollektive Schweigen geht Geschichte verloren, gerade in diesem Land, in dem bis heute unüberhörbar geschwiegen wird."

Einen guten Monat blieben Michail und Nikolaj noch bei den Langthalers bis zu ihrer Rückkehr nach Russland. Dann riss der Kontakt ab. 19 Jahre lang kein Lebenszeichen. Mitte der 1960er-Jahre interviewte ein Journalist der russischen Zeitung "TASS" Mutter Langthaler. "Die Überschrift des Artikels lautete:,Österreichische Mutter sucht ihre Söhne!'", erinnert sich Anna Hackl. "14 Tage später traf ein Telegramm in der Zeitungsredaktion ein:,Wir leben, wir sind glücklich und gesund. Es gibt bald ein Wiedersehen! Michail und Nikolaj.'" Die beiden besuchten die Langthalers in den Jahren darauf immer wieder. Auf Fotos ist der russische Botschafter auf dem Heuboden zu sehen, auf dem Michail und Nikolaj überlebten. Mutter Langthaler flog mit 80 nach Russland. Ihr erster Urlaub, ihre erste Flugreise. Anna Hackl verpachtete 1991 ihre Landwirtschaft und reiste im Jahr darauf Richtung Sowjetunion. Michail arbeitete als Speisedirektor in Kantinen und Betrieben, Nikolaj als Dreher in einer Lokfabrik. Nikolaj starb 2002 mit 79, Michail 2008 mit 92 Jahren. Im letzten Telefonat mit Anna Hackl sagte er: "Ach, Anna, meine Beine werden müde. 92 Jahre und Mauthausen, das ist schwer."

Die Dinge pendeln sich auch nach über 70 Jahren nicht ein. Anna Hackl neigt nicht zu großen Worten, sie spielt sich nicht als moralische Mahnerin auf. In ihrer Wohnstube steht ein großer Fernseher. Sie kennt die Nachrichtenbilder von dem Minister, der die Politik über das Recht stellen will. Man ist, wenn Anna Hackl ihre Geschichte erzählt, mittendrin in der Gegenwart.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.