Florian Teichtmeister

Fall Teichtmeister: „Bei Kindesmissbrauch geht es um Macht“

Florian Teichtmeister war einer von Millionen Männern, die im Netz Fotos von Kindesmissbrauch konsumieren. Aber wer sind die Menschen, die sich an minderjährigen Opfern sexueller Gewalt ergötzen? Wie entsteht Pädophilie? Und ist sie therapierbar?

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Triggerwarnung

In dieser Geschichte geht es um Themen wie Pädophilie und Missbrauch. Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen oder traumatische Erfahrungen reaktivieren.

Wer sind die Männer, die nachts allein vor dem Computer Missbrauchsmaterial von Minderjährigen auf Portalen mit einschlägigen Namen wie Girllovers, CPM (Child Porn Market) oder Spielplatz, oft in gigantischen Mengen, auf ihre Rechner herunterladen? Und dabei oft auch selbst produziertes Material in die Schlacht werfen – in der Szene gilt ein solches Einbringen quasi als Eintrittskarte, um im   pädosexuellen Tauschgeschäft mitmischen oder „sich hochschlafen“ zu können, wie es im Milieu heißt. Es ist auch, so der Jargonbegriff, die „Keuschheitsprüfung“, um den Darknet-Kollegen eine Sicherheit zu geben, dass man kein Undercover-Cop ist. „Das Erschreckende ist, dass auf diesen Portalen über die für Fotos missbrauchten Kinder wie über Autos geredet wird,“ so ein polizeilicher Ermittler in einer ZDF-Dokumentation: „Es herrscht null Mitgefühl für ihr Leid.“ 

Auf die eingangs gestellte Frage gibt es so viele Antworten wie Täter. Als auffälligste Merkmale kristallisieren sich nach drei Gesprächen mit den Expertinnen Heidi Kastner (forensische Psychiaterin), Rotraud  A. Perner (Psychoanalytikerin und Juristin) und Wolfgang Berner (forensischer Psychiater und Psychoanalytiker) heraus: Ein großer Teil dieser Konsumenten führt ein Doppelleben, ist in einer Beziehung und hat ein vermeintlich normales Sexualleben, braucht aber „diesen Kick“ in der Isolation der Heimlichkeit, wie auch Teichtmeister den Beamten sein jahrelanges Suchtverhalten erklärte, das ihm zunehmend „entglitten“ sei. Auch das Klischee des verklemmten Nerds, der sich nicht an erwachsene Menschen herantraut und aus psychoanalytischer Sicht in einer frühen Entwicklungsstufe stecken geblieben ist, entspricht in hohem Maß der Realität. Ein auffällig großer Anteil dieser Männer leidet an Depressionen, Angststörungen, Panikerkrankungen und einem ausgeprägten Suchtverhalten. Eine schwierige Mutter-Beziehung oder eine Mutter, die nicht der Fürsorge für ihr Kind nachkommen konnte, ist in den Biografien pädophiler Täter wesentlich häufiger zu finden als ein belastetes Vater-Verhältnis. Auch unter geistig eingeschränkten Männern findet sich immer wieder pädophiles Verhalten. 

Der Prozentsatz jener Männer, die im Internet  einschlägiges Material von Minderjährigen konsumieren und dann zu einem Hands-on-Sexualdelikt, also zu einem Missbrauchsdelikt  im eigenen Umfeld übergehen, ist verhältnismäßig klein. In einer Online-Befragung von 8718 deutschen Männern aus dem Jahr 2016 zum digitalen Konsum sexueller Inhalte, veröffentlicht in einer internationalen Fachpublikation zur Sexualforschung, gaben 5,5 Prozent an, „irgendeine Form pädophilen Interesses“ zu haben, 1,7 Prozent bekannten sich zu einem „Pornokonsum ohne Kontakte“, 0,7 Prozent zu einem Konsum pädophiler Inhalte in Kombination „mit Kontakten“. Eine Facette solcher „Kontakte“ ist das sogenannte Cyber-Grooming, wo Täter unter falschen Identitäten (etwa als Model- oder Fußball-Scout) versuchen, im Netz mit Minderjährigen in Kontakt zu treten und sie später auch zu treffen.

Datenhorror

Österreichische Fahnder bei einer Hausdurchsuchung und Sicherstellung.

„Das spezielle Muster, das einen Menschen in die Pädophilie führt“, so der Wiener Psychiater Wolfgang Berner, „existiert nicht. Das wäre viel zu einfach gedacht.“ Eines der wenigen allgemeingültigen Phänomene bei all diesen Tätern ist, dass es ihnen weniger um die sexuelle Präferenz als um das Gefühl von Macht geht. Wenn Berner bei seiner Arbeit mit pädosexuellen Straftätern in der Gruppentherapie die einfache Frage stellte: „Warum ein Kind, warum keine Frau?“, waren sich bei der Antwort meist alle einig: „Ein Kind macht, was ich sage.“ Berner leitete 15 Jahre lang das Institut für Sexualforschung und forensische Psychiatrie am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf, seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Sexualdelinquenz und Pädophilie. Er führte unzählige solcher Gruppentherapien, sowohl im Gefängnis als auch ambulant, denn bei der Behandlung von Pädophilie hat sich das Prinzip nach der Methode der „Anonymen Alkoholiker“ bewährt: „In der Gruppe öffnen sich die Betroffenen mehr, im Kreis von Gleichgesinnten überwachen sie einander auch und entwickeln ein schnelles Gefühl für die Gefahr, wenn bei einem ein Rückfall droht.“

In der Zeit der Liberalisierung der Justiz, den 1970er- und 1980er-Jahren, tendierte man in der allgemeinen Wahrnehmung dazu, solche Täter als Opfer ihrer Triebe zu entlasten und damit auch zu entschulden. „Moral hat in der Justiz nichts verloren“, zitiert die Psychoanalytikerin  Rotraud  A.  Perner den in den 1970er-Jahren für eine große Justizreform verantwortlichen sozialdemokratischen Minister Christian Broda und bezieht sich damit auf das verhältnismäßig geringe Strafmaß (Teichtmeister drohen maximal zwei Jahre Haft), das in seinem Fall in die Kategorie „Vergehen“ fällt: „Das läuft unter Eigenbedarf. Ich bin der Überzeugung, dass man in der Prävention ganz früh ansetzen muss und das Phänomen Sucht schon in den Biologieunterricht integriert gehört. Man sollte früh erkennen lernen: Ich bin offensichtlich in eine Art Abhängigkeit gerutscht, ich muss etwas dagegen tun.“

Im Zuge der Sensibilisierung durch die zahlreichen Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche und die seit 2017 hochflammenden #MeToo-Debatten hat sich ein Paradigmenwechsel im öffentlichen Bewusstsein eingestellt. Dass einem Millionenunternehmen wie dem Mode-Label Balenciaga im vergangenen November eine solche Grenzüberschreitung passierte wie die Präsentation einer Accessoire-Kollektion mit Kindern, die mit in Bondage-Lederoutfits gezwängten Teddybären posierten, hatte einen weltweiten Aufschrei zur Folge. Zudem waren in den Werbemotiven für die Frühjahrs- und Sommerkollektion 2023 originale Gerichtsdokumente zu einem Fall von Kinderpornografie zu sehen. „Da hat sich in der öffentlichen Sensibilisierung sehr viel getan“, so Perner: „Allerdings birgt die mediale Anprangerung, wie sie jetzt im Fall von Teichtmeister passiert, auch eine große Gefahr, die neue Gewalttaten nach sich ziehen könnte.“ 

Geschmacklos

Models posierten im November 2022 mit Bondage-Bären für das Label Balenciaga. 

Dass „die toxische Enthemmung“, so der Sexualmediziner Klaus Beier von der Berliner Charité im „Spiegel“, die die manische Befriedigung einer sexuellen Obsession im Netz bedeutet, keiner Entschuldung gleichkommt, darüber ist man sich inzwischen einig. Unter „Gleichgesinnten“ im autoritätsfreien Raum seien freilich „die üblichen Regulationsmechanismen außer Kraft gesetzt“; im Schutze der Anonymität des Darknet bestärken Täter einander in ihrer Neigung und stacheln sich auch gegenseitig an. „Die dargestellten Kinder werden immer jünger, die damit ausgelebten Gewaltfantasien immer brutaler“, beobachtet ein Münchner Ermittler im „Bayerischen Rundfunk“.

„Pädophilie ist keine Geisteskrankheit“, sagt die Linzer Psychiaterin Heidi Kastner, die sich in ihrem ersten Buch „Väter als Täter“ mit Kindesmissbrauch in der Familie auseinandergesetzt hatte: „Menschen, die um ihre problematische Neigung wissen und sie in verbrecherischer Form skrupellos in einer solchen Sucht ausleben, sind keine armen Kranken, sondern in die Eigenverantwortung zu nehmen.“ Die häufige Rechtfertigung, dass beim Betrachten von Bildern ja keine Personen zu Schaden kämen, gilt nicht: „Jeder muss wissen, dass hinter jedem dieser Fotos ein Verbrechen an einem Kind steht.“

Dass eine sexuelle Obsession wie im Fall Teichtmeister ein Leben dermaßen aus den Angeln heben kann, vergleicht Wolfgang Berner mit dem Suchtverlauf beim Alkoholismus: „Die Abstände werden  kleiner, die Intensität muss erhöht werden, damit der Dopamin-Kick einsetzt. Es gibt Menschen, die nur in Krisen trinken, und andere, die den Konsum  täglich brauchen und in einem solchen Suchtmechanismus  fixiert sind.“ Im Darknet, jenem Teil des Netzes, der unsichtbar für alle ist, die mit einem Standard-Browser unterwegs sind und der nur mit einer speziellen Software zugänglich ist, findet man alles, was man sonst nur aus Krimis kennt: Auftragskiller, Drogen, Waffen und eine Unmenge von pornografischem Material, wobei der Missbrauch von Minderjährigen dominiert. Anwendungen wie der Tor-Browser gewähren „Eintritt in den perversen Hades der digitalen Unterwelt“, so der australische Cyber-Kriminologe Matthew Ball.

„Frauen leben ihre erotischen Bedürfnisse mehr in der Fantasie aus.“

Rotraud A. Perner, Psychoanalytikerin

„Es ist ein Kampf gegen Windmühlen“, seufzt die Staatsanwältin Julia Bussweiler von der hessischen Zentralstelle gegen Cyberkriminalität in dem NDR-Reportage-Format „STRG_F“, nachdem es ihren Ermittlern im Mai 2021 gelungen ist, das von vier Deutschen betriebene Darknet-Portal „Boystown“ mit weltweit 400.000 registrierten Benutzern auszuheben. Nur wenige Tage nach dem spektakulären Coup war das Bildmaterial im Darknet wieder zugänglich. Ein anonymer Nutzer hatte eine partielle Kopie des Forums wieder hochgeladen. Denn häufig speichern die Darknet-Konsumenten ihre riesigen Datenmengen bei sogenannten Filehostern im frei zugänglichen Internet. Neben Dropbox, WeTransfer oder Google Drive gibt es unzählige kleine Firmen, die ihren Nutzern anonymen Speicherplatz gewähren und in der Regel keine Ahnung haben, wie kriminell das dort abgelegte Material tatsächlich ist.

Die in den USA ansässige Kinderschutzorganisation „National Center for Missing and Exploited Children“ (NCMEC) registrierte im Jahr 2020 65 Millionen solcher digitalen Missbrauchsdelikte, die Zahlen wachsen ständig. Das deutsche Bundeskriminalamt erfasste allein im ersten Halbjahr 2021 so viele Vorfälle wie im gesamten Jahr 2020. Das NCMEC, das mit Konzernen wie Google, Yahoo, Facebook und Microsoft kooperiert, dient inzwischen auch als der wichtigste Hinweisgeber für europäische Ermittler. Die in den USA ansässigen Internet-Konzerne haben sich  verpflichtet, einschlägiges Material auf ihren Plattformen ausfindig zu machen. Hochgeladene Fotos werden automatisch mit der NCMEC-Datenbank verglichen, bei Treffern übernimmt die Polizei des jeweiligen Landes. Dank NCMEC gelangten auch im vergangenen Jahr 10.000 solcher Hinweise nach Österreich, 781 solcher Straftäter konnten identifiziert werden, wie Jürgen Ungerböck, Leiter des Büros Sittlichkeit und Kinderpornografie im Bundeskriminalamt, im Ö1-Morgenjournal berichtete: „Im Vorjahr haben wir die höchste Zahl an Verdachtsmeldungen, nämlich 10.000, bekommen, nahezu doppelt so viel wie 2021.“ 

Die Gretchenfrage, die all diese Debatten überlagert, lautet: Kann eine pädophile Präferenz mit therapeutischen Methoden geheilt werden? Die Antwort ist nein, aber der Umgang mit einer solchen Neigung kann unter Kontrolle gebracht werden.  Verhaltenstherapie, Hypnotherapie oder  Psychoanalyse sind in der Behandlung die gängigsten Methoden. Einer der wesentlichen Punkte in der Prävention sind niederschwellige Angebote wie das seit 2005  entstandene Vorzeigeprojekt „Kein Täter werden“ in der Berliner Charité, das inzwischen in Deutschland, Österreich und der Schweiz Zweigstellen hat. „Viele Männer mit einer pädosexuellen Präferenz wagten es nicht, sich Hilfe zu holen, weil sie Angst hatten, so erfasst zu werden“, so Berner, der schon davor  mit  Patienten   ohne amtliche Meldung gearbeitet hatte,  „die Garantie absoluter Anonymität hilft sehr. Manche kommen, weil sie die Isolierung und Ächtung fürchten, andere, weil ihre Partnerin ihr Doppelleben enttarnt hat.“ Einer der Teilnehmer, ein 29-jähriger Medienmanager, postete auf der Website des Präventionsnetzwerks: „Der wichtigste Teil der Therapie war für mich, zwischen Fantasien und der Verantwortung für mein sexuelles Verhalten zu trennen. Ich kann es nicht verhindern, dass mich Kinder erregen, aber was ich tun kann, ist, keinerlei sexuellen Kontakt mit Kindern zu haben.“ In Österreich findet man solche Angebote unter anderem im Rahmen der Männerberatungen (www.nicht-taeter-werden.at).

„Bei Kindesmissbrauch geht es weniger um die sexuelle Präferenz als um Macht.“

Wolfgang Berner, Psychiater

Dass Frauen in der Debatte über den Konsum von Missbrauchsdarstellungen fast immer ausgeklammert werden, hat verschiedene Ursachen. Das statistisch erfasste Register von sexuellen Straftaten weist ein Geschlechterverhältnis von 100:1 aus. Allerdings geben ein Viertel aller Missbrauchsopfer Täterinnen an, was darauf hindeutet, dass die Dunkelziffer von Delinquentinnen im familiären oder sozialen Umfeld weitaus höher ist als angenommen. Dass der obsessive Konsum von pornografischem Material im Netz eine Männerdomäne bleibt, hängt damit zusammen, dass bei „Frauen das Machtbedürfnis in der Sexualität eine geringere Rolle spielt“ (Wolfgang Berner) und sie „ihre erotischen Bedürfnisse eher mit der eigenen Fantasie“ (Rotraud A. Perner) ausleben. 

Auf der Website der Wiener Männerberatung steht resignativ zu lesen: „Die österreichischen Täter-arbeits- und Opferschutzprogramme greifen leider immer erst dann, nachdem ‚etwas‘ passiert ist.“ Wie bei allen Gewaltdelikten gilt auch hier, was Betreuungsinstitutionen wie Frauenhäuser und Männerberatungen seit Jahren fordern: Um die Zahl der zukünftigen Opfer zu reduzieren, muss der Fokus viel stärker auf  Prävention und Arbeit mit potenziellen Tätern gerichtet sein.  

Unter der Ministeriumssite gewaltinfo.at findet sich eine genaue Auflistung jener Institutionen, wo Opfer Hilfe finden, nachdem „etwas passiert“ ist. 

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort