Porträt eines Mannes mit ernstem Gesichtsausdruck.
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Festwochen-Chef Milo Rau über Gaza: „Wir schweigen, ohne bedroht zu sein“

Milo Rau, Intendant der Wiener Festwochen, veröffentlicht heute europaweit einen offenen Brief, in dem er die Kulturszene dazu auffordert, sich zu den Massakern in Gaza zu äußern. profil hat nachgefragt.

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Milo Rau, Intendant der Wiener Festwochen, weilt gerade in Köln, auf dem Sprung nach Rom, wo er am kommenden Donnerstag sein Stück „La lettre“, das im Juli in Avignon uraufgeführt wurde, beim Romaeuropa-Festival zur Italien-Premiere bringen wird. Zeitgleich veröffentlicht er heute, Samstag, einen ganz anderen Brief, den er „Widerstand jetzt“ nennt und ihn „an meine Freunde“ adressiert. Während in Italien, Österreich und Deutschland, wo man „loyal zur israelischen Regierung“ stehe, „trotz des Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Benjamin Netanjahu Hunderttausende auf die Straße“ gingen und „ihre Regierungen unter Druck“ setzen, schreibt Rau: „Wir müssen aufhören, darüber zu schweigen. Wir müssen unsere Bühnen von Orten des beredten Schweigens zu Orten des Widerstands verwandeln.“ (Hier finden Sie seine Ausführungen)

Medien in Belgien, England, Frankreich, Italien, Kroatien, Portugal, Slowenien und Rumänien veröffentlichen in diesen Stunden den an die internationale Kulturszene gerichteten Brief, nur in Österreich, Deutschland und der Schweiz, beklagt Rau, habe sich kein Medium dafür gefunden. „Es war trotz aller Bemühungen keine einzige deutschsprachige Zeitung, Zeitschrift oder Plattform zu finden, die bereit war, meinen Brief zu publizieren. Während es in allen anderen Ländern Europas kein Problem war. Was wohl mehr sagt über das im Brief beschriebene ,Schweigen‘ der Täternationen des Holocaust, als uns lieb sein kann.“

Auch profil hat es aus grundsätzlichen Erwägungen abgelehnt, den Text des Regisseurs unkommentiert abzudrucken, allerdings aus anderen Gründen: Ein unabhängiges Nachrichtenmagazin sollte kein Forum für politischen Aktivismus – egal, welcher Richtung – sein. Wir haben es vorgezogen, Milo Rau zu seinem Brief zu befragen.

Ein Mann in Arbeitskleidung lehnt auf einem Balkon in der Stadt.
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Italien befindet sich im Generalstreik, seit eine multinationale Gaza-Hilfsflotte von den Israelis gekapert wurde.

Milo Rau

Ja, und es zeigt sich: Giorgia Meloni ist Opportunistin, sie dreht unter Druck gerade ab von ihrem Netanyahu-freundlichen Kurs. Italien hatte, bevor die rechte Regierung kam, eine ganz andere, viel weniger konstante Israel-Politik als Österreich oder Deutschland. Meloni ist dann hart nach rechts, zu Netanjahu geschwenkt. Jetzt schwenkt sie zurück.

Sie fordern in Ihrem Brief, der aktuell in über 10 europäischen Ländern erscheint, Widerstand von der Kulturszene ein. Wie kann oder soll dieser Widerstand konkret aussehen? Genügt es denn, wenn die Kulturszene Israel verurteilt?

Rau

Zuerst einmal: Es geht mir um die israelische Regierung, das israelische Militär. Da stehe ich an der Seite der liberalen israelischen Zivilgesellschaft, die das Vorgehen ihres Militärs genauso verurteilt. Große israelische Tageszeitungen sprechen von „Genozid“. Und es kommt natürlich darauf an, an welcher Stelle man arbeitet. Ich habe ja selbst lange zugewartet, bis es immer wieder hieß, ganz eindeutig: Das ist ein Genozid. Dies haben alle Forschungskommissionen und die UNO dutzendfach belegt, und inzwischen haben wir eigentlich nur noch zwei Optionen: Wir räumen die Institutionen ab und pfeifen auf internationales Recht, tun so, als gebe es kein Völkerrecht und auch den Begriff Genozid nicht. Oder wir tun endlich irgendetwas.

Muss man als Festwochenchef auch Aktivist sein?

Rau

Ich spreche hier nicht als Aktivist; ich spreche aus meiner Institution heraus, weil ich es für eine Demokratie politisch und humanistisch bedenklich finde, als Kultureinrichtung zu schweigen. Ich wollte am Romaeuropa-Festival eine Rede zur Situation im Nahen Osten halten, aber das Festival hatte davor schlichtweg Angst. Dabei ist die Rede ausbalanciert. Man kann das Aktivismus nennen, aber ich spreche eigentlich nur Fakten an und versuche sie einzuordnen – aber das war eben nicht möglich. Ich will aus der sichtbaren, international vernetzten Position heraus, die wir als Festwochen haben, etwas dazu sagen, etwas Klares, an den Tatsachen Orientiertes. Ich habe versucht, jeden Aktivismus zu vermeiden, keinerlei Propaganda zu machen, sondern einfach festzustellen: Der Völkermord in Gaza ist Fakt, und wir können es uns als Menschheit nicht leisten, dazu aus bloßen Bedenken oder Angst weiter zu schweigen.

Anders als so viele palästinabewegte Menschen, die seltsamerweise so häufig darauf vergessen, die unaussprechliche Gewalt der Hamas zu erwähnen, verweisen Sie auf sowohl die israelische als auch die palästinensische Leidensperspektive. Es geht Ihnen nicht darum, eine Seite, sondern die Menschlichkeit zu wählen. Würden auch Sie in Ihrem Brief nur von der israelischen Vernichtungslust schreiben …

Rau

… dann ergäbe dies keinen Sinn. Ich habe deshalb auch ganz bewusst auf die tiefenhistorische Ursache dieses Grauens hingewiesen, auf jenen Genozid nämlich, den Deutschland und Österreich mit all ihren Kollaborateuren an den europäischen Juden begangen haben. Er hat zu den andauernden Folgekonflikten in Israel und Palästina geführt. Wir tragen Verantwortung für alle Menschen, die in der historischen Folge von dieser Politik betroffen sind. Zum Genozid, den die Nazis verübten, wurde geschwiegen, nicht gehandelt, nichts getan. Dabei wussten es alle, die es wissen wollten. Aber sie dachten, wenn ich etwas sage, dann gelte ich als Defätist, die Lage ist unklar, vielleicht ist es nur Gegenwehr, es ist eben Krieg, all diese Argumente, all diese linguistischen Spielereien eben. Zudem: Niemand erklärte damals, das sei Genozid. Es gab kein internationales Recht. Man sagt ja gern, wir können nicht wissen, wie wir selbst im NS-Terror gehandelt hätten. Jetzt wissen wir es: Wir hätten einfach nicht gehandelt.

Die Lage ist verfahren, es gibt in diesem Krieg nur Verlierer.

Rau

Ja, die israelische Gesellschaft leidet selbst unter der Politik Netanjahus, die den Austausch der Geiseln faktisch verhindert. Sie steht in einer Tradition der bewussten Verschärfung der Lage, die auch die Hamas betreibt. Das sind zwei Seiten des gleichen Extremismus. Wenn die UNO nun sagt, da finde ein Genozid statt – ich habe ja keine eigenen Nachforschungen angestellt, ich kann nur diese Institutionen zitieren –, dann können wir uns entweder dafür entscheiden zu sagen, es ist uns einfach egal; soll dieser Genozid eben stattfinden, wir sprechen nicht darüber, und was die internationalen Institutionen sagen, die wir gegründet haben, um genau solche Massaker zu verhindern, ist uns ebenfalls egal; wir kehren zurück in die Vorkriegszeit. Oder wir können sagen, wir beginnen zu handeln.

Sie mahnen Haltung und Widerstand ein, schreiben, man müsse endlich Stellung nehmen. Aber kontaminieren nicht schon zu viele unqualifizierte Meinungen zum Krieg den kulturellen Raum? Es vergeht ja kein Tag, an dem nicht irgendein Künstler irgendwo ausgeladen wird, weil er Israel zu lautstark kritisiert hat. Oder geht es Ihnen nur um die Intendantenebene?

Rau

Nein, ich meine wirklich die Kulturinstitutionen. Wir müssen das ansprechen, aber nicht mit der Anmaßung, recht zu behalten. Ich zitiere nur internationale Stellen, die das beurteilen können, äußere keine eigene Meinung dazu. Denn Meinungen haben wir tatsächlich genug. Man sieht aber, etwa in Italien, wo es diesen Generalstreik gibt, dass auch eine Regierung wie jene von Meloni sich gezwungen sieht, darauf zu reagieren. Viel zu spät und vermutlich auch verlogen, aber über Druckausübung dieser Art funktioniert Demokratie. Als die drei Nationen, die den Völkermord in den 1930er- und 1940er-Jahren zu verantworten haben, können wir uns nicht einfach taub stellen, wenn der Begriff Genozid fällt. Wir können nicht mehr sagen: alles egal, lasst uns nochmal zwei Jahre abwarten. Und ich sage das alles ja nicht zwei Tage nach dem 7. Oktober, sondern zwei Jahre danach.

Sie üben auch Selbstkritik. Es kommt Ihnen vor, so schreiben Sie, als ob Sie wortreich schwiegen, wenn Sie einfach weiter poetisches Theater machen. Aber die Frage bleibt: Was nützt es zu reden, und vor allem: zu wem? Zu Netanjahu?

Rau

Als ich die Wiener Festwochen im vergangenen Mai eröffnet habe, vor 50‘000 Menschen, stand ein Grüppchen Demonstranten vor der Bühne und hat gerufen: „Milo, sag etwas zu Gaza, sag was!“ Ich dachte, das ist für mich nicht der Moment. Ich fand es aber auch beschämend, dass wir diese riesige Bühne hatten und über die andauernde Vernichtung weder sprechen konnten noch wollten. Weil wir Angst haben, weil wir unsere Institution schützen wollen! Weil wir denken, wir begeben uns da in ein Schussfeld, dem wir uns nicht aussetzen wollen. Weil wir Opportunisten sind. Inzwischen bin ich bereit, meine Antwort zu geben, und ich wollte sie öffentlich in Rom geben. Das hat das Festival aber abgelehnt, so wie ich es ja vor einiger Zeit auch abgelehnt hätte. Aber ich konnte einfach nicht mit einer Komödie nach Rom kommen, während 100.000 Menschen auf der Straße sind. Insofern habe ich beschlossen, diesen Text nun zu veröffentlichen, um das – immerhin – für die Festwochen gesagt zu haben. Ich spreche zu meinen Freunden und Freundinnen, die in diesem Betrieb arbeiten: zu Theaterleitern, Dramaturgen, Kuratoren, Intendanten. Da herrscht vor allem in den deutschsprachigen Ländern ein unendliches Schweigen. Natürlich gibt es einzelne Künstler, die sich dazu äußern. Aber von wem werden sie dann gecancelt? Von uns, den Veranstaltern.

Am Ende Ihres Briefs heißt es: „Lasst uns eindeutig Stellung beziehen. Nur so können wir unsere Kunst, das Theater retten.“ Inwiefern retten Worte zu Gaza das Theater? Weil es andernfalls nicht mehr ernst zu nehmen wäre?

Rau

Ja. Der Diskursraum ist ja nicht leer. Er ist voll mit extremistischen Meinungen. Und jeder, der nicht Extremes für die eine oder die andere Seite fordert, wird von der jeweils anderen Seite gecancelt. Ich habe das mit dem Philosophen Omri Boehm erlebt, letztes Jahr bei den Festwochen: Er versuchte zu vermitteln – und wurde gerade dafür angegriffen. Wenn wir die Bühne, den Sprechraum, diesen symbolischen Raum gegen die Extreme nicht verteidigen und betonen, dass die Menschlichkeit nur eine Seite hat, dann überlassen wir ihn dem Geschrei von Kriegstreibern. Wenn wir uns nicht einmal jetzt, im Besitz vollkommener Redefreiheit, kritisch äußern – wie würden wir uns verhalten, wenn wir diese Freiheit nicht mehr hätten? Wir urteilen sehr schnell über die Zeit der Sklaverei und den Faschismus, behaupten, die Leute hätten damals falsch gehandelt. Aber sie befanden sich in Lebensgefahr. Und wir? Wir schweigen, ohne bedroht zu sein.

Sie sagen, wir sollten uns nicht verzetteln in „linguistischen Spielereien“, in der Frage, ob der Begriff „Genozid“ am Platz sei. Aber ist es nicht wichtig, den Unterschied zwischen Kriegsführung und Genozid zu klären, ehe man diese Keule auspackt?

Rau

Die Keule haben internationale Institutionen schon vor Jahren ausgepackt. Aber wir sehen sie einfach nicht, wollen sie nicht sehen. Alle, die von der Weltgemeinschaft bestellt sind, dieses Wort zu hüten, haben es nach langem, vielleicht zu langem Abwägen auf den Tisch gelegt und erklärt, es sei eindeutig. Inzwischen hat die UNO sogar betont, es gebe Vorsatz, was besonders schwierig zu beweisen ist. Kurz: Wir haben alle Beweise für das Wort „Genozid“. Es gibt keinen Zweifel mehr, außer man braucht ihn, um das eigene Nichthandeln zu legitimieren. Das ist mehr als nur ein Kriegsverbrechen.

Stellung zu beziehen, das ist für Sie schon eine Art Handlung, weil daraus Widerstand erwachsen kann durch eine internationale Staatengemeinschaft, die auf Israel Druck ausüben könnte?

Rau

Nehmen wir Vietnam. Dort wurde nie ein Genozid geplant oder durchgeführt. Aber es gab grauenerregende Kriegsverbrechen. Damals trug die Weltgemeinschaft, indem sie auf die Straße ging, dazu bei, den Krieg zu stoppen. Heute erleben wir die Absurdität, dass Netanyahu, ein gesuchter Kriegsverbrecher, in die USA reisen kann, was nach internationalem Recht gar nicht sein dürfte, um dort zusammen mit Donald Trump einen Friedensplan auszuarbeiten. Die Maßstäbe sind derart verschoben, dass uns das gar nicht mehr auffällt. Ich kooperiere als Intendant mit Dutzenden verschiedenen Institutionen, mit zahllosen Menschen in Israel, bin in fast täglichem Kontakt mit israelischen und palästinensischen Kunstschaffenden. Ich sehe die Problematik der Menschen in Jerusalem und Tel Aviv, die demonstrieren gehen und sich schämen für die Zerstörung, die ihr Staat anrichtet. Man muss diese Menschen unterstützen. Ihre Scham muss enden. Es geht ja auch um Israel, um das Weiterbestehen dieses Landes.

Und man darf die israelische Bevölkerung nicht mit ihrer Regierung verwechseln.

Rau

Mehr noch: Man darf jüdische Menschen nicht mit dieser Regierung verwechseln. Die Muslime haben das gleiche Problem. Nach jedem extremistischen Anschlag geraten alle, die einen Schleier oder einen Bart tragen, in Verdacht. Meine Schwiegereltern sind nach dem Krieg aufgewachsen. Wenn sie als Deutsche ins Ausland reisten, sagten alle „Scheißnazis“ zu ihnen. Das waren aber junge Hippies, Nachgeborene, die nichts am Hut hatten mit den Verbrechen der Nazis – ganz im Gegenteil.

Räumen Sie Trumps Friedensplan eine Chance ein?

Rau

Ich habe Hoffnungen, aber keine Illusionen. Wenn einer wie Netanyahu, der eine Kriegspartei ist, ein Gebiet besetzt hält und – laut Internationalem Strafgerichtshof – einen Völkermord begeht, der Bevölkerung, die er bombardiert, Frieden anbietet, zusammen mit einem Mann, der bereits mit Putin zusammen der Ukraine Frieden angeboten hat, dann ist das, nun ja, dubios.

Netanyahu will wohl, dass der Krieg weitergeht.

Rau

Er braucht den Krieg, weil er danach weg vom Fenster sein wird; dann wird ihm der Prozess gemacht, dann bricht die Milošević-, Karadžić-Zeit für ihn an. Dasselbe gilt für die Hamas. Sie gehören, soweit sie nicht tot sind, ebenfalls vor den Internationalen Strafgerichtshof. Denn auch sie sind Völkermörder. Es ist die palästinensische und israelische Zivilgesellschaft, die unter ihren wahnsinnigen Führern leidet. Sie müssen wir schützen, an ihrer Seite stehe ich.

Wie ernst es Ihnen ist, lese ich schon aus der Tatsache ab, dass Sie als Ungläubiger neben Bert Brecht und Delmore Schwartz auch das Neue Testament, die Worte Jesu zitieren.

Rau

Erstens geht der Brief auch an meine römischen Freunde im Vatikan. Und zweitens habe ich in Italien 2020 einen Jesus-Film gedreht. Das Neue Testament hat tatsächlich eine relevante Botschaft: Jesus tritt den Tempelpriestern entgegen und wird gefragt, ob er das Gesetz kenne. Und er sagt, ja, natürlich. Das Gesetz ist toll, aber es ist toter Buchstabe. Es muss in die Realität umgesetzt werden. Wenn wir als Menschheit sagen, wir haben einen Verhaltenskodex, der eindeutig ausgelegt wird – und wir schreiten trotzdem nicht ein, nehmen aus politisch-strategischen Gründen Zehntausende von Toten hin, dann stimmt etwas grundsätzlich nicht. Dann ist der Zeitpunkt gekommen, das Neue Testament zu zitieren.

Stefan Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.