100. Geburtstag

Georg Stefan Troller: Vorstoß ins Intimste

Ein Amerikaner in Paris: Die Historikerin und Dokumentaristin Helene Maimann über den genialen Menschenporträtisten Georg Stefan Troller.

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Er ist nach wie vor eine auffallende Erscheinung. Über viele Jahre hatte sich sein Äußeres kaum geändert. Als ich ihn kennenlernte, sah er aus, wie ich mir einen Musketier vorstelle. Das junge, fast faltenlose Gesicht kontrastierte mit seinem weißen Bart, die Oberlippe verbarg ein mächtiger Schnurrbart. Das pechschwarze Haupthaar wurde jeden Morgen mit einem nassen Kamm glattgebügelt, um die dichte Krause, Trollers Kummer seit Kindertagen, zu bändigen. Inzwischen ist es schütter und weiß, aber eigensinnig wie eh und je. Er zieht einen langen, tiefen Scheitel über das linke Ohr und legt die Haare quer über den Kopf auf die andere Seite, sodass sie sich am Ende kringeln wie kleine Medusententakel.

Georg Stefan Troller ist in den letzten Jahren wirklich und wahrhaftig alt geworden, braucht eine Hörhilfe, sieht schlecht, geht schlecht. Lange Zeit hat er das Alter nur widerwillig zur Kenntnis genommen. Als ihm Robert Schindel, Schriftsteller und enger Freund, einen Stock empfahl, lehnte er ab. Wie sieht denn das aus, sagte er. Inzwischen sind Gesicht, Moustache und Bart fast durchscheinend geworden, und er setzt mühsam einen Fuß vor den anderen. Aber sein Geist schwingt sich nach wie vor empor in immer neuen Büchern, sein scharfer Verstand ist hellwach. Ruft man ihn an, fließt das Gespräch dahin ohne Stocken. Seine Wortlust ist ungebrochen, die Stimme ohne Risse, er hat alle Namen und Orte parat, findet jede Telefonnummer. Dann kehrt er zurück zu seinem alten Hermes-Baby, der geliebten Schreibmaschine. An die 20 Bücher hat er darauf verfasst. Alle Briefe und Manuskripte entstehen darauf, mit handschriftlichen Korrekturen. Er besitzt weder Computer noch Internet-Zugang. Ein Faxgerät ist das einzige Zugeständnis an moderne Kommunikation. Seit Neuestem hat er ein Smartphone.

George, französisch ausgesprochen, ist ein Amerikaner in Paris, "denn ich habe diesen Pass, und ich zahle diese Steuern, obwohl ich seit 1949 in Paris lebe. Es waren die Amerikaner, die mir das Leben gerettet haben, nicht die Franzosen, und schon gar nicht die Österreicher." Geboren in Wien, daheim in der deutschen Sprache, sonst nirgendwo. Am 10. Dezember feiert er seinen 100. Geburtstag - die "ersten hundert Jahre", wie sein neuestes Buch kokett verkündet.

Das deutsche Feuilleton begann schon vor zwei Jahren, ihn aufzusuchen und, wieder einmal, über sein Leben, seine Filme, seine Fluchten, sein Judentum und seine Alpträume zu befragen. Seit den 1960er-Jahren hatte er in Deutschland ein Millionenpublikum. In Österreich blieb er fast unbekannt. Sein populäres "Pariser Journal" für den WDR, das eine stürmische Zuneigung zum ehemaligen Feindesland hervorrief-Troller porträtierte nicht nur Stars wie Yves Montand, Juliette Gréco, Romy Schneider, Alain Delon oder Jean Cocteau, sondern auch steinalte Theatermacher, Cafétiers, Stadtstreicher, vergessene Tänzerinnen und abgewrackte Artisten-,datierte lange vor dem Kabelfernsehen. Daher hierzulande unbekannt. Auch die für das ZDF produzierte "Personenbeschreibung",mit der er eine revolutionäre, oft provokante, intime Form des Fernsehporträts entwickelte. Bis auf zwei Filme, einer über Peter Handke, der andere über Felix Mitterer, ignorierte der ORF dieses Format.

Wenn ein Interview gut geführt wird, muss man nach Sexualität, nach moralischen Verstößen, nach den Antriebsfedern fragen. Wenn man da nicht hinkommt, muss es ganz schön hart werden können, bis dahin, wo der andere droht, das Gespräch abzubrechen."

Troller rückte seinen Protagonisten in jeder Hinsicht auf den Leib, kreiste sie ein, ging nahe mit der Kamera an sie heran, stellte sehr direkte, manche fanden unangebrachte Fragen, forderte Antworten. Ließ sich auf ein Spiel mit ihnen ein, das manchmal zu einem unerwarteten Abenteuer ausartete, hin und wieder zu einem lebensgefährlichen, wie etwa 1973, als er während des Jom-Kippur-Krieges im Zuge von Dreharbeiten in die Kampfhandlungen geriet und rings um ihn alles in die Luft flog. Er drehte selbstverständlich weiter. Alles, was passierte, musste festgehalten werden.

Er ließ stets Widersprüche zu, auch das Absurde und Unverständliche, das Große und das Lächerliche. Sein Interviewstil und die Kameraführung waren so einfühlsam wie herausfordernd. Dann der kühne Schnitt. Noch dazu kommentierte er seine Filme selbst, sprach auch die Übersetzungen, alles trocken, lakonisch, sehr angloamerikanisch. Er war gefeiert und umstritten, aber hierorts-unbekannt.

Wen holte er vor die Kamera, um dieses Spiel mit offenem Ausgang zu beginnen? "Es müssen Menschen sein, die ich bewundere, bei denen ich das Gefühl habe, sie können mir etwas über mich selbst erzählen, mich weiterbringen", sagte er in einem unserer ersten Interviews. "Ich glaube, dass mein tiefster Antrieb der nach Jüngerschaft ist. Ich soll deren Jünger sein. Sie sollen mir etwas schenken, was sie anderen nicht schenken. Das hat etwas von Liebe, von Geben und Nehmen. Wenn ein Interview gut geführt wird, kann man zu den intimsten Fragen vorstoßen. Man muss es sogar. Fragen nach Sexualität, nach den inneren Schwierigkeiten, nach moralischen Verstößen, nach den Antriebsfedern. Wenn man da nicht hinkommt, muss es, nach meinem Verständnis, auch ganz schön hart werden können, bis dahin, wo der andere droht, das Gespräch abzubrechen. Bis dahin muss man sich vorfühlen. Sonst ist es möglicherweise unzureichend, was man da gemacht hat. Und man ärgert sich nachher, dass man feig war."

 

In den 1970er-Jahren gab der ORF zwei Drehbücher bei ihm in Auftrag, über den jungen Hitler und den jungen Freud. "Axel Corti machte daraus große Erfolge",erzählt Troller. "Dann beschlossen der Schweizer Sender SRG, das ZDF und der ORF, jeder einen Film über die Nazizeit zu produzieren. Axel war für den ORF vorgesehen. Er schlug mir vor, meine Fluchtgeschichte zu einem Drehbuch zu verarbeiten. Das war etwas, was ich immer vermieden habe. Mich so auszustellen als Jude. Ich wollte Journalist sein, Filmemacher, nichts anderes. Und nun machte ich alles öffentlich, die Qual der Emigration, den Verlust der Sprache, die Verlorenheit, das Heimweh nach der Stadt, die mich hinausgeprügelt hatte." Dennoch fließt ihm dieses erste Drehbuch so schnell aus dem Hermes-Baby, als hätte er sich schon längst seiner Jugend zuwenden wollen. Er schreibt drei oder vier Versionen, weil Corti nicht leicht zufriedenzustellen ist. Die Manuskripte werden dem Schlafwagenschaffner des Orient-Express anvertraut und in Wien vom Westbahnhof abgeholt. Dazwischen lange Telefonate, immer spätnachts, das war billiger. Daraus wurde schließlich die Emigrations-Trilogie "Wohin und zurück",die die Geschichte des 17-jährigen Juden Freddy Wolff erzählt, der 1938 vor den Nazis flüchtet, zuerst nach Paris, dann nach New York, und sieben Jahre später als amerikanischer Soldat nach Wien zurückkehrt.

Der dritte Teil wurde im Mai 1986 beim Festival in Cannes präsentiert. "Danach gab es ein Publikumsgespräch", erinnert sich Troller. "Ich habe Axel empfohlen, bei seiner Einleitung den Namen von-wie hieß er doch gleich ""Kurt Waldheim?" "Genau. Waldheim! Komisch, manche Namen Also ich sagte ihm, erwähne den besser nicht, den kennt doch hier keiner. Weit gefehlt. Wir kamen eine geschlagene Stunde lang nicht aus dem Kino. Kein Wort über unseren Film. Nur über euren damaligen Präsidenten."

"Welcome in Vienna" machte internationale Karriere. "Ein starker, erschütternder, ziemlich grausamer Film", hieß es in den Pariser "Cahiers du Cinéma".Cortis Inszenierung gehörte 1986 zu den erfolgreichsten Filmen in Frankreich. "In Paris wurde das ein richtiger Kultfilm",erzählt Troller. "Aber am meisten hat mich der Besuch in einem Wiener Kino gefreut, das es nicht mehr gibt, unten in der Mariahilfer Straße, wo heute das MuseumsQuartier ist." "Das Residenzkino",sage ich. "Ja. Ich habe mir eine Karte gekauft und bin hinein. Niemand hat mich erkannt. Da waren fast nur junge Leute drin. Ich spürte ihre Bewegung, ihre Atemlosigkeit. Am Ende saßen alle schweigend da, es gab Tränen, und dann war langer Applaus. Ich hab mich leise wieder verdrückt. Aber das zu erleben, war eine schöne, eine tolle Erfahrung."

Zu jener Zeit sind wir einander begegnet, bei einer der vielen Diskussionen über den Vergesslichen in der Hofburg. Corti, Troller und ich oben auf dem Podium. Wir dachten zu dritt laut nach. Was war in diesem Land so gründlich schiefgegangen? Ich war von den beiden Herren neben mir tief beeindruckt, die einander so gut kannten, sich schätzten und liebten. Cortis schwingende Stimme, Trollers Bassbariton. Beide großartige Künstler, scharfkantig, melodiös, Troller im schönsten Wienerdeutsch.

1990 fuhr ich nach Paris, um mit George ein Radiointerview über seine ersten Jahre in Frankreich als Flüchtling zu machen; ein Jahr davon hatte er unter deutscher Besatzung verbracht, ehe er das rettende amerikanische Visum erhielt. Ich war begeistert über die Bilder, die er von diesem im Frühjahr 1940 kollabierenden und kollaborierenden Land malte. "La douce France", das süße Frankreich, wie es sich ergab, dem jungen, stählernen Deutschland in die Arme warf. Das Gegenteil von dem, was die offizielle Geschichtsschreibung in Frankreich damals verbreitete. Ein Jahr später lud er mich in sein Landhaus ein, eine alte, verträumte Bauernkate in der Normandie, in der er und seine Frau Kirsten ihre Sommer verbrachten.

Ich war auf dem Sprung ins Fernsehen, und er schenkte mir eine Einführung in die Kunst, mit Menschen für acht oder zehn Drehtage eine Art Liebesbeziehung einzugehen, zu ihrem Kern vorzudringen, um ihr Leben in Filmkunst zu verwandeln, die natürlich nicht die Wirklichkeit abbildet, sondern eine Vorstellung davon, eine Idee, vielleicht einen Traum. Ob das klappen kann, weiß man, sagte er, nach dem ersten Gespräch. "Dieser Moment, wenn man ganz schnell wissen muss, hab ich ein Gefühl für den Menschen oder hab ich es nicht. Kann ich ein Gefühl bei ihm für mich hervorrufen oder nicht. Diese Situation finde ich herrlich, unnachahmlich, und die herbeizuführen und zu erleben, ist fast das Schönste am Filmen."

Mehr als 140 Filme hat Troller zwischen 1962 und 2004 herausgebracht. Dazu Bücher, Drehbücher und eine Erzählung mit dem wunderbaren Titel "Vogelzug zu anderen Planeten: Der kleine Prinz und sein Fuchs treffen Pinocchio, Max und Moritz, Lolita und weitere".Wer möchte, kann Georg Stefan Troller am 5. November im Wiener Metro-Kino antreffen, wo um 19 Uhr die Premiere des Dokumentarfilms "Auslegung der Wirklichkeit" stattfinden wird, den Ruth Rieser mit ihm gedreht hat. Vorher wird er im Foyer sein neues Buch "Meine ersten hundert Jahre", herausgegeben vom Memoria Verlag, signieren. Das Filmarchiv Austria stellt sich mit einer umfangreichen DVD-Edition seiner besten Filme ein, die im Dezember herauskommt.


Happy Birthday, lieber George. Alles Gute, von allen, die dich lieben.

Helene Haimann

Die studierte Historikerin hat Bücher über die Arbeiterbewegung und die Sozialdemokratie verfasst und in den 1980er-Jahren große zeitgeschichtliche Ausstellungen gestaltet; ab 1991 arbeitete sie als ORF-Redakteurin. In dieser Funktion drehte sie viel beachtete Porträt-und Dokumentarfilme, unter anderem über Bruno Kreisky, Arik Brauer und Käthe Leichter.

Georg Stefan Troller

ist gebürtiger Wiener, der sich-als Jude 1938 von den Nazis vertrieben-in seinem Pariser Exil nach dem Krieg als Schriftsteller und Drehbuchautor (vor allem für die Filme Axel Cortis),als Regisseur und Dokumentarfilmer einen Namen gemacht hat. Seit 1949 lebt er mit amerikanischer Staatsbürgerschaft in Frankreich. Trollers dokumentarische Fernsehserien "Pariser Journal" (WDR, 1962-1971) und "Personenbeschreibung" (ZDF, 1972-1993) gelten als legendär.