Die Spielwütigen

"Im Keller" und "Ich seh, Ich seh": Kellerhorror und Familientrauma

Filmfestspiele. Kellerhorror und Familientrauma in Venedig

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Seine populären Zeiten hat der Autorenfilm offenbar hinter sich. Wenn selbst beim ältesten Festival der Welt, das als prominenter Durchlauferhitzer für avanciertes internationales Kino dienen müsste, von Anfang an nur müde Routine herrscht (und manche der digitalen Projektionen sogar mit Pixeldefekten und kurzen Bildstillständen stattfinden), kann man sich um die Vitalität des europäischen Filmfestspielbetriebs Sorgen machen. Seltsam ruhig ist es während der ersten Spieltage der 71. Mostra am Lido jedenfalls, sogar der überraschende Wettbewerbs-Eröffnungsfilm, Alejandro G. Inarritus feinnervige Broadway-Satire "Birdman“, wurde von der anwesenden Branche eher gleichmütig hingenommen.

Keaton, Norton und Watts in allerbester Spiellaune
Dabei befasst sich der mexikanische Regisseur, dem man angesichts des bleiernen Existenzialismus seiner früheren Werke ("21 Gramm“, "Babel“, "Biutiful“) einen solchen Film nicht mehr zugetraut hätte, ironisch mit dem Blockbuster-Kino der Gegenwart und hält zugleich das klassische Format der Screwball-Comedy in Evidenz (der Bette-Davis-Klassiker "All About Eve“ könnte Pate gestanden haben) - in labyrinthischen Kamerabewegungen und begleitet vom nervösen Puls eines improvisierten Schlagzeug-Soundtracks. Michael Keaton ist Zentrum und Titelheld in "Birdman“: Er konnte in der Rolle des psychisch angeschlagenen Superheldendarstellers, der Jahrzehnte nach seinen Filmerfolgen endlich auch seriös reüssieren möchte und daher ans Theater geht, wohl auf eigene Erfahrungen als "Batman“-Star zurückgreifen. Dem listigen Untertitel des Films - "The Unexpected Virtue of Ignorance“ - wurde das formidable Ensemble, in dem neben Keaton auch Emma Stone, Edward Norton, Naomi Watts und Zach Galifianakis in allerbester Spiellaune und ohne Rücksicht auf Verluste agieren, sehr gerecht: Die Frechheit der Ignoranz kann sich im Kino jederzeit in eine unerwartete Tugend verwandeln.

Seidls Rückkehr
Die merkwürdige (und emotional gefährdende) Profession des Schauspielens thematisierten gleich mehrere Festivalfilme dieses Jahrgangs, darunter Barry Levinsons Philip-Roth-Adaption "The Humbling“, in der Al Pacino einen Birdman-Bruder im Geiste spielt: einen depressiven, selbstzerstörerisch gestimmten Akteur. Aber auch die beiden aus Österreich an den Lido entsandten Werke lieferten Kommentare zum Thema. Ulrich Seidls Kino stellt die Frage nach dem Wesen des Schauspiels seit jeher: Wenn Profi-Mimen ohne Dialogvorgaben improvisieren, dabei auch "sie selbst“ sein müssen, andererseits Laien als virtuose Selbstdarsteller die Grenzen zu den Profis hin verwischen, lösen sich die alten Beurteilungskriterien auf. Zwei Jahre nach seinem künstlich skandalisierten Auftritt mit "Paradies: Glaube“ im Wettbewerbsprogramm der Filmfestspiele in Venedig ist Seidl also zurückgekehrt - mit einem, wenn man so will, unterirdischen Film: "Im Keller“, als sanft fiktionalisierter Dokumentarfilm konzipiert, läuft hier außer Konkurrenz; er zeigt eine Reihe extremer Existenzen, die im Souterrain befremdlichen Leidenschaften nachgehen - Nachrichten aus dem Leben von Waffennarren, Dominas, Masochistinnen, und Nazi-Nostalgikern.

Faszinosum Keller
Der Keller ist für Ulrich Seidl ein Faszinosum: In "Hundstage“ (2001) verstaut der Schrebergartenbesitzer dort für den Ernstfall Lebensmittel in großen Mengen, in "Import Export“ (2007) werden die Körper der Verstorbenen in die Kelleretage des Spitals verdrängt, und in "Paradies: Glaube“ (2012) wird unter Tag fanatisch gebetet. Bereits 2009 hatte Seidl die Dreharbeiten zu "Im Keller“ aufgenommen, der an eine Idee anschließt, die ihm bereits während der Recherchen zu "Hundstage“ gekommen war. Die Kriminalfälle Kampusch und Fritzl dienten ihm als weiterer Anstoß, sich "in den Untergrund meines Landes zu begeben“, sagte er vor vier Jahren in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung“. Denn es gebe "gerade bei uns Österreichern eine Mentalität, Dinge unter den Teppich kehren zu wollen“; er vermute, dass "dieser Verschleierungsdrang aus einer Art Minderwertigkeitskomplex resultiert, aus einem Kaiserreich zu einem kleinen, gewöhnlichen Land geworden zu sein“. Am meisten aber interessierten ihn "das Verborgene und die menschlichen Abgründe, die sich im Abgrund eines Kellers spiegeln“. Auch in Seidls Elternhaus im Waldviertel hatte es übrigens einen feucht-kalten Keller gegeben: Als Kinder hätten er und seine Brüder furchtbare Angst vor diesem Keller gehabt, sagt Seidl. Er selbst sei dort oft eingesperrt worden. Der Keller könne "ein Ort der Freiheit“ sein, aber eben auch "ein Gefängnis“. Aus dem Kerker dieser Bilder gibt es kein Entkommen. Dabei könnten die Szenen, die in "Im Keller“ versammelt sind, wohl auch ohne die neurotische Kadrage sehr irritierend wirken - und möglicherweise sogar stärker, da Seidls Bildsprache alle Darstellungen so offensiv verkünstlicht, dass der Effekt der Entwirklichung sich in ihnen geradezu zwangsläufig einstellt. Es ist, obwohl fast alles davon "wahr“ ist, schwer zu glauben, wovon hier berichtet wird; denn man tendiert dazu, Menschen, Orte und Lebensweisen, die derart irreal erscheinen, als Inszenierung zu begreifen. Andererseits ist genau dies Seidls Strategie: Er stellt in Frage, was wir für "Wirklichkeit“ halten - und führt die Perversion eines mit simplen, sichtbaren Mitteln überhöhten Alltags vor. Er entstellt zur Kenntlichkeit. Interessanterweise wirkt das tatsächlich Dokumentarische bei Seidl fiktionaler als seine mit Schauspielern besetzten Inszenierungen.

Horrorthriller "Ich seh, Ich seh"
Österreichs diesjährige Festivalbeiträge sind Familienangelegenheiten: Denn Seidl ist auch als Produzent eines formidablen neuen Kino-Schockers angereist, den Veronika Franz, seine Lebenspartnerin, gemeinsam mit Severin Fiala, einem der Neffen des Filmemachers, inszeniert hat: Franz und Fiala hatten bereits 2012 mit ihrem Dokumentarfilm "Kern“ aufhorchen lassen, nun liegt ihr Spielfilmdebüt vor: "Ich seh, Ich seh“ - wie "Im Keller“ von Martin Gschlacht fotografiert - ist ein überraschend effizienter, minimalistischer Horrorthriller geworden, in dem ein Zwillingsbubenpaar an der Identität jener Frau zu zweifeln beginnen, die sich in ihrer modernistischen, in der Einöde stehenden Landvilla als ihre Mutter ausgibt. Susanne Wüst spielt die Frau mit gespenstischer Kälte, während das Regieduo sämtliche alten und neueren Tricks mobilisiert, mit denen man im Kino für Angst und Schrecken sorgt.

Über die Talentprobe und Genre-Fingerübung geht "Ich seh, Ich seh“ aber hinaus: Mit ihren cleveren Analysen von Kinovoyeurismus und Mutter-Kind-Machtverhältnissen, von Lichtentzug und Identitätsspiegelungen treiben Franz und Fiala ein nicht nur sarkastisches (und zunehmend blutiges) Spiel mit dem Zuschauer, sondern eben auch eines, das filmtheoretisch und medienphilosophisches Gewicht entwickelt - ohne die ungefilterte Angstlust dessen zu stören, der keine Lust darauf hätte, auf solche Subtexte zu achten. Insofern: eine staunenswerte Leistung. Kunstminister Ostermayer, der eigens für dieses Werk einen Repräsentations-Kurzabstecher an den Lido wagte, hatte den richtigen Film gewählt.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.