Jacques Offenbach

Jacques Offenbachs unbekanntes Werk

Weite Teile des Werks von Jacques Offenbach liegen brach. Der 200. Geburtstag des genialen deutsch-französischen Komponisten wird daran leider wenig ändern.

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Beim eben verklungenen, erstmals von Christian Thielemann melancholisch schön, aber auch allzu sinfonisch ausziselierten Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker wurde nicht nur der vor 200 Jahren geborene Franz von Suppé als Begründer der Wiener Operette einfach übergangen; von einem anderen Genie des Leichten gab es ebenfalls keine Note zu hören: Jacques Offenbach. Dabei hätte es so viele Bezüge zu Wien gegeben. Der am 20. Juni 1819 in Köln geborene Jude Jakob Offenbach, der in Paris als Jacques Offenbach und "Mozart der Champs-Élysées" (Rossini) zu Weltruhm gelangte, war ein Kosmopolit, der in Amerika gastierte und in Japan gern gespielt wurde.

Komisch-frivole Operetten

Wenn er seine Werke gut aufgeführt hören wolle, fahre er nach Wien, sagte Offenbach einmal. Seine komisch-frivolen Operetten, denen Karl Kraus, einer seiner wortmächtigsten Bewunderer, die Genrebezeichnung "Offenbachiade" verpasste, wurden in Wien neu orchestriert (davon zeugen die deutschsprachigen Aufnahmen der EMI, die diese Partituren verwendeten) und opulent inszeniert. Offenbach wurde gar die Ehre zuteil, mit seinem Frühwerk "Häuptling Abendwind" vom späten Nestroy parodiert zu werden. Marie Geistinger, Johann Strauss' erste Rosalinde und Königin der Wiener Operette, wurde auch Offenbachs lokale Muse. Mit dem Walzerkönig lieferte er sich musikalische Duelle, und die Strauss-Dynastie verquirlte viele seiner Melodien zu Potpourris. Offenbach-Musik lag auf jedem Kaffeehausorchesterpult in Wien.

Sogar Richard Wagner stach er an der Donau aus - was dieser ihm in seinem antisemitischen Geifer nie vergaß. Da dessen "Tristan" als unaufführbar erachtet wurde, gab man stattdessen an der Hofoper im Kärntnertortheater 1864 Offenbachs große romantische Oper "Die Rheinnixen" als Weltpremiere. Leider waren die Umstände widrig, das Stück floppte. Doch seine schönste Nummer übernahm der geschickte Zweitverwerter in ein ambitioniert-seriöses Werk, über dessen Komposition er 1880 in Paris starb: "Hoffmanns Erzählungen" - ein mythenumwobener Operntorso, an dem bis heute herumgedoktert wird; die vom Rhein nach Venedig verlegte "Barcarole" aber avancierte zum Welthit.

Komponistenjubiläen haben nicht selten etwas Pflichtschuldiges. Die bedeutenden Tonsetzer, die es jüngst zu feiern galt - Bach, Brahms, Bruckner, Mozart, Schubert, Schumann, Mendelssohn, Mahler, Berlioz - werden ohnehin permanent gespielt; ihre Leben und ihr Wirken erscheinen restlos ausgeforscht. Bei Komponisten aus der zweiten Reihe hingegen, bei Joseph Haydn oder etwa Franz Liszt, tut man sich schwer, jenseits der als repertoirefähig erachteten Werke dem Kanon weitere hinzuzufügen; weder Haydns Opern noch Liszts Tondichtungen waren nach den Gedenkjahren öfter zu hören.

Kein Interesse bei Roščić

Auch im Fall Offenbach wird sich, realistisch betrachtet, kaum etwas ändern. Der geniale Klanghumorist und Charakterspötter wird mit "Hoffmanns Erzählungen" und etwa zehn Operetten weiterhin präsent sein, darunter die einst selbst von den darin dem Hohn preisgegebenen Politikern gern besuchten Parodien "Orpheus in der Unterwelt", "Pariser Leben", "Die Großherzogin von Gerolstein", "Die schöne Helena", "La Périchole" und "Ritter Blaubart". An einer Wiener Rehabilitierung der im Original französischen "Les Fées du Rhin" hat offenbar auch der designierte Staatsoperndirektor Bogdan Roščić kein Interesse - dies habe er dem Verlag, der Offenbachs Werke verwaltet, unlängst mitgeteilt.

Dabei gäbe es da viel mehr zu entdecken: Knapp 140 Musiktheaterwerke zählt Offenbachs ausuferndes Werkverzeichnis, das rund 600 Stücke umfasst; von vielen kennt man nur die Titel. Denn Offenbach, einer der virtuosesten Cellisten des 19. Jahrhunderts, wurde von der leichten Muse verführt. Er schloss sein Studium nicht ab, holte sich in dreijährigem Frondienst im Orchester der Pariser Opéra-Comique das Rüstzeug für ein Leben in der Unterhaltungsbranche - als Komponist (allein 80 Cellowerke existieren, von denen nur ein Bruchteil bekannt ist) und Theaterbetreiber, vor allem aber als findiger Zeitgeistforscher.

Paris war damals die Musikhauptstadt der Welt, vor allem, wenn man in der Oper reüssieren wollte. Die Italiener Rossini, Bellini, Donizetti und selbst Verdi zog es dorthin; der Deutsche Giacomo Meyerbeer erfand das Genre der Grand opéra, dem an der Seine auch Richard Wagner erfolglos nacheiferte. Gleichzeitig boomte das klingende Unterhaltungsgewerbe; Melodramen und ihre Parodien waren en vogue. Um den Menschen Amüsement zu bieten, musste stetig Nachschub produziert werden. Offenbach tat dies, ohne sich um Nachruhm zu sorgen oder seine Werke in geordnetem Zustand zu hinterlassen. Deshalb kümmerte sich kaum jemand um diese Schätze. Man spielte nur, was bekannt war.

Hinter dem aktuellen Bouffe-Boom, der nun vor allem den erotisch-freigeistigen, satirisch zuspitzenden Offenbach wiederentdeckt, steckt dessen deutscher Traditionsverlag, Bote & Bock. Er gehört zwar schon seit 1996 zum englischen Haus Boosey & Hawkes, doch die Operetten-Geschicke, die auf den Bühnen blühen wie lange nicht mehr, werden von Berlin aus durch zwei Enthusiasten betreut: Jean-Christophe Keck, der größte Offenbach-Verrückte der Welt, besitzt als Einziger Zugang zu den zerstrittenen, auf Bergen von unveröffentlichten Partituren sitzenden Offenbach-Erben; er fand in Boosey & Hawkes ein ordnendes Verlagsdach - konkret in dem Lektor Frank Harders-Wuthenow, der sich Kecks Sache zu eigen gemacht hat und in dessen Chaos kaufmännische Vernunft walten lässt.

Wahre Schätze

Die Offenbach-Edition Keck, als OEK bekannt, gibt es seit 1999, seither sind wahre Schätze gehoben worden. Die meistverlangten Werke sind natürlich "Les Contes d'Hoffmann" - und "Orphée aux enfers", von dem jüngst eine zweite Fassung samt ein in König Neptuns Reich spielendes, etwa halbstündiges Bild aufgetaucht ist, das seiner szenischen Wiederaufführung harrt. Dazu wird es wohl auch diesen Sommer in Salzburg nicht kommen, wenn Barrie Kosky den genialen Griechenulk zu Festspiel-wie Jubiläumsehren aufsteigen lässt. Immerhin wird es das Radio-Symphonieorchester Wien Anfang Juni konzertant aufführen.

20.000 Seiten ungedruckter Offenbach-Noten gibt es laut Keck: alles Unterhaltungstheater, oft schlampig (wenn überhaupt) ediert, vom Komponisten selbst mitunter als Steinbruch benutzt. Die französischen Verlage kümmerten sich um dieses Erbe nicht, Keck dagegen durchwühlte sogar auf die Straße gekippte Notenladungen, fand Unersetzliches in alten Öfen. Ungefähr 40 abendfüllende Werke hat Jacques Offenbach verfertigt, bekannt ist davon allenfalls ein Viertel. Nicht nur hat er einst sein Publikum auf das Beste unterhalten, er sog wie ein Schwamm die Musiktrends seiner Zeit auf, machte sich über sie lustig, variierte, verfeinerte sie und glacierte sie mit seinen pikanten Melodien. Deswegen ist die Überraschung oft groß, wenn wieder ein verblasstes Offenbach-Meisterwerk aus dem Schatten tritt.

So wie vor einigen Jahren der lyrischromantische Dreiakter "Fantasio". Oder die exzentrische Politfarce "König Karotte", deren deutschsprachige Wiederaufführung in Hannover in Koproduktion mit der Wiener Volksoper entstand und dort im Herbst herauskommen wird. Kecks jüngste Entdeckungstat galt übrigens einem Hund als Gouverneur eines exotischen Operettenstaates: "Barkouf", uraufgeführt im Jahr 1860, ist eine weitere Satire auf Napoleon III. - aber auch auf aktuelle Machthaber wie Emmanuel Macron anwendbar, so jüngst geschehen in der begeisternden Straßburger Wiederaufführung. Offenbachs Heimatstadt Köln wird "Barkouf" im Herbst 2019 nachspielen, seinen lokalen Helden jedoch das ganze Jahr über feiern unter dem Motto: "Yes, we Cancan". Was hübsch ausgedacht, aber falsch ist. Der Cancan kam, obwohl dem Komponisten dieser posthum zugeschrieben wurde, erst 20 Jahre nach Offenbachs Tod wirklich in Mode.