Kippeffekte: Österreichische Berlinale-Premieren zwischen Liebe und Hass

Kippeffekte: Österreichische Berlinale-Premieren zwischen Liebe und Hass

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Um die Verwerfungen der Liebe dreht sich das österreichische Kino gegenwärtig wie besessen. Drei filmische Arbeiten aus Wien, die – in den Nebenschienen Forum und Panorama – bei der 66. Berlinale nun ihre Uraufführungen erlebten, zeugen davon. Sie alle setzen sich über Konventions- und Darstellungsgrenzen hinweg, um an die Essenz dessen zu gelangen, was das heißen kann: zu lieben, zu begehren, einander aufs Innigste zu vertrauen. Und wie schnell die Zuneigung umschlagen, kippen kann, wie nah in allen Fällen der blanke Hass zu liegen scheint.

Um das Leben eines schwulen Paars, zweier kunstsinnig-bourgeoiser Wiener Bohemiens, geht es in dem eigenwilligen Spielfilm „Kater“: Der zwischen Literatur, Theater und Kino changierende, vielfältig begabte Händl Klaus hat ihn (acht Jahre nach seinem Kinodebüt „März“) geschrieben und inszeniert – und mit Philipp Hochmair und Lukas Turtur zwei sich buchstäblich mit Haut und Haar ihren Rollen überantwortende Protagonisten gefunden. Den psychologischen Hintergrund einer unerklärlichen Gewalttat, die das beschauliche Leben des Paares jäh zerreißt, leuchtet der Regisseur kühn aus, ohne zu einfachen Antworten zu finden. Und er gibt auch den physischen Aspekten dieser erschütterten Beziehung breiten Raum, scheut vor explizit sexuellen Bildern nicht zurück. Wenn „Kater“ dennoch nicht in jeder Hinsicht erfolgreich erscheint, so liegt das vor allem an der doch zu forcierten, zu sehr geschriebenen Story. Mit der Vielzahl an spannenden Fragen, die er aufwirft, überfordert Händl sich und seinen Film, der als ästhetisch-moralisches Experiment seine Meriten, aber nicht ganz die nötige narrative Konsequenz besitzt.

In die schwule Szene Wiens, ein paar soziale Stufen tiefer, dringt auch der in Paris lebende Wiener Patric Chiha ein: Seine Low-Budget-Studie „Brüder der Nacht“, eine Erkundung der Lebensweisen junger bulgarischer Roma, die als Stricher in Wien leben, dockt sichtlich an große Vorbilder der queeren Filmgeschichte, an Fassbinder, Genet, auch Kenneth Anger, Rosa von Praunheim und Peter Kern an. Chiha porträtiert die jungen Männer, die sich ihm anvertrauen, ohne Vorurteile, feiert ihre Träume und ihre Lebenslust in semidokumentarischen Spielszenen, melodramatischer Musik und grellen Farben.

Wo endet die darstellerische Distanz, wo beginnen Schauspiel und Identifikation?

Die souveränste, auch stillste Form, von der Liebe und dem Kino zu erzählen, fand dann aber Ruth Beckermann, deren neuer Film ebenfalls die Grenzen zwischen Sein und Schein, Fiktion und Dokumentarismus auflöst: „Die Geträumten“ widmet sich dem berühmten Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan, der auf genuin literarische Weise die emotionalen, ideologischen und politischen Unwägbarkeiten gegenseitiger Anziehung auslotet. Der strukturelle Rahmen ist der Clou des Films: Die Textdokumente einer unbedingten Liebe und ihrer Enttäuschung, in einem Studio des ORF-Funkhauses gelesen und diskutiert von der Musikerin Anja Plaschg (Soap & Skin) und dem Schauspieler Laurence Rupp, werden zur Basis einer Auseinandersetzung mit komplexen Fragen: Wo endet die darstellerische Distanz, wo beginnen Schauspiel und Identifikation? Wie lassen sich die Zeitschichten im Kino ineinander blenden? „Die Geträumten“ ist ein überaus zarter, von Johannes Hammel perfekt fotografierter Film, der nicht bloß von zwei historischen Gestalten, sondern von vier hochempfindlichen Künstlern – besser noch: vom Wesen der Emotion selbst – handelt.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.