Kontroverse um Documenta 15: In der Reisscheune

Seit Monaten tobt rund um die Documenta eine Antisemitismus-Debatte, die Positionen scheinen verhärtet.

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Wer warf wem was vor? Sind nun die einen antisemitisch oder die anderen rassistisch? Oder ist vielleicht alles ganz anders? Es kann einem schwindlig werden, wenn man den seit Anfang des Jahres schwelenden oder eher: flammenden Streit um die kommende Ausgabe der Documenta, eines der international wichtigsten Kunstfestivals, fassen möchte.

Begonnen hatte es im Jänner dieses Jahres: Da bezichtigte ein Blogpost des sogenannten "Kasseler Bündnis gegen den Antisemitismus" Teilnehmerinnen und Teilnehmer der documenta fifteen in Kassel des Antisemitismus. Die Begründung: Einige von ihnen stünden der BDS-Bewegung nahe, ebenso wie Teile des indonesischen Künstlerkollektivs Ruangrupa, das die jüngste Ausgabe des Festivals leitet. BDS steht für "Boycott, Divestment and Sanctions" und möchte Israel international durch Boykott- und Ausschlussmaßnahmen isolieren. Das deutsche und das österreichische Parlament betrachten die BDS-Kampagne als antisemitisch, andere Stimmen – etwa der Historiker Moshe Zimmermann und der Schweizer Presserat – sehen das nicht so.

Seit dem Kasseler Blogbeitrag im Jänner geschah Folgendes: Die Schriftstellerin Eva Menasse ortete in der "Zeit" angesichts derartiger Debatten "eine fehlgeleitete, hysterische Pein". Die "Welt" dagegen meinte, die Documenta wolle BDS "salonfähig machen". Beim Festival wiederum cancelte man eine geplante Gesprächsreihe zu Antisemitismus und Rassismus. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, und die Documenta-Beteiligten publizierten offene Briefe. Der deutsche Antisemitismusbeauftragte Felix Klein kritisierte das Kunstfestival: Da kein Künstler, keine Künstlerin aus Israel eingeladen sei, boykottiere es das Land. Und kürzlich wurde ein Ausstellungsort der Documenta beschmiert. Vorige Woche mischte sich gar die rechtsextreme AfD ein und verlangte die Absage der Veranstaltung – der Abgeordnete Frank Grobe ortete einen "antisemitischen Skandal". Kurz: Der Überblick ging ein wenig verloren.

Über eines wurde bis dato, wenige Tage vor der Eröffnung am 18. Juni, kaum gesprochen: über die Kunst selbst. Das Kollektiv Ruangrupa lud zum traditionsreichen Festival weitere Künstlergruppen, aber auch Einzelpositionen ein, viele davon aus dem globalen Süden. Um sich mit Kassel, dieser für sie so exotischen Stadt, vertraut zu machen, kommunizierten die Ruangrupa-Mitglieder eng mit der Bevölkerung, manche übersiedelten gar in den hessischen Ort. Man gehe, so erklären sie, nach dem Prinzip des "lumbung" vor. Dieses indonesische Wort bezeichne eine "gemeinschaftlich genutzte Reisscheune, in der die überschüssige Ernte zum Wohle der Gemeinschaft gelagert wird". Es wird also sehr viel kollaboriert. Auf der Künstlerliste finden sich wenige in Europa bekannte Positionen, darunter der rumänische Künstler Dan Perjovschi. Auch die gebürtige Kubanerin Tania Bruguera ist dabei – als Teil des Kollektivs Instar. Weitere Namen: Black Quantum Futurism, Wakalig Uganda, Safdar Ahmed, *foundationClass*collective, Hamja Ahsan, Sa Sa Art Projects und Serigrafistas queer. Leicht konsumierbarer Kunstgenuss ist nicht unbedingt zu erwarten, doch das ist ohnehin ein Wesenszug der Documenta. Diesmal hat sich die Sachlage kompliziert. Mancherorts wird angesichts der Kontroverse schon das Ende des (nur alle fünf Jahre für jeweils 100 Tage stattfindenden) Festivals als solches ausgerufen. Dort zu präsentierende Kunstwerke, an denen antisemitische Tendenzen feststellbar wären, sind freilich bisher nicht bekannt.

Unter den vielen Stimmen in dieser Kontroverse ließ eine aufhorchen: die des israelischen Soziologen Natan Sznaider. In seinem hochgelobten, kürzlich erschienenen Buch "Fluchtpunkte der Erinnerung" plädierte er dafür, die Leiden und Opfer von Holocaust und Kolonialismus nicht gegeneinander auszuspielen. Zu den Streitigkeiten rund um die Documenta sagte er in einem TV-Interview: "Wenn man postkoloniale Künstler einlädt, postkoloniale Kunst zu machen, dann machen sie postkoloniale Kunst. Vieles davon ist kritisch gegenüber dem Westen und gegenüber Israel." Eine Öffnung gegenüber dem globalen Süden bedeute "möglicherweise eine Verschließung gegenüber anderen Sensibilitäten." Die Documenta müsse zu diesen Widersprüchen stehen, sie sogar thematisieren – selbst wenn das schwierig sei.

Die Documenta erhebt seit jeher den Anspruch, Weltkunst zu zeigen. Wieso sollten ausgerechnet hier globale Kontroversen ausgespart bleiben? Die Kunst, so heißt es oft, lehre Ambiguitätstoleranz. Vielleicht erteilt sie jenen, die sich ihres Standpunktes allzu sicher sind, ein paar Nachhilfestunden.

Nina   Schedlmayer

Nina Schedlmayer