Martin Walser

Martin Walser: "Ich bin nicht rechtzeitig gestorben"

Kommende Woche wird der deutsche Schriftsteller Martin Walser 90 Jahre alt. Ein Gespräch über wertlose Liebeslyrik und neue Sommerhosen, scheußliche Skandale und Antisemitismusvorwürfe, Trump-Imitatoren und das Untergehen der Literatur

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Martin Walser ist noch schlaftrunken. Langsam richtet er sich auf der Couch mit dem hellen Bezug auf und schiebt die rote Wolldecke beiseite. Ein regnerisch-kalter Märznachmittag in einem Dorf am Bodenseeufer, in dem viele Straßennamen nach Fischgattungen benannt sind. In Walsers Arbeitszimmer unter dem Dach mit den abgeschrägten Wänden aus rötlichen Fichtenbrettern und dem nussfarbenen Schreibtisch ist es kühl. Unverstellter Blick durch das Geäst hoher Bäume auf den Bodensee, eine durch keinen Lärm gestörte Ruhe, nur die Heizung gluckert. Notizbuch um Notizbuch, fast alle durchnummeriert, reiht sich in den Regalen, wenige Bücher, neben dem Schreibtisch ein ergonomisches Sitzmöbel mit abenteuerlich geschwungenen Bein- und Armlehnen. Der Schriftsteller hat den Termin buchstäblich verschlafen, seine Frau und Tochter haben ihn nicht beizeiten geweckt. Walsers ohnehin einschüchternde Augenbrauenbüsche sind noch verstrubbelter als sonst.

Seit Jahrzehnten lebt Walser in dem Haus am See. Seit Dekaden ist er auch als unübertrefflicher Chronist deutscher Wirklichkeits- und Seelenzustände tätig. 1949 veröffentlichte die "Frankfurter Rundschau“ den ersten Text Walsers, sein Romandebüt "Ehen in Philippsburg“ erschien 1957; mit "Das Einhorn“ glückte ihm 1966 ein erster Bestseller, ein noch größerer folgte 1978 mit der Novelle "Ein fliehendes Pferd“, für viele neben dem autobiografisch grundierten Spätwerk "Ein springender Brunnen“ (1998) das bis heute beste Walser-Buch. 1997, zu Walsers 70. Geburtstag, erschien eine zwölfbändige Werkausgabe mit Romanen, Erzählungen und kleiner Prosa; in den vergangenen 20 Jahren ist das Opus des Schriftstellers um zahllose Bände angewachsen, zuletzt um den Roman "Statt etwas oder Der letzte Rank“ und den Sammelband "Ewig aktuell“ (beide Rowohlt Verlag), der Walsers Aufsätze, Äußerungen und Reden aus mehr als einem halben Jahrhundert enthält.

Walsers Schreiben war stets von dem Imperativ des Politischen begleitet; er bezog in ungezählten Essays zu politischen und gesellschaftlichen Kontroversen Stellung. Als Literaturskandale gingen seine Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ein, in der er 1998 von der "Instrumentalisierung von Auschwitz“ sprach, und sein 2002 publizierter Roman "Tod eines Kritikers“. Seine Paulskirchenrede hat er später bereut, die Geschehnisse um den umstrittenen Roman mit dem Walsers Langzeitintimfeind Marcel Reich-Ranicki nachgebildeten Protagonisten lassen ihm bis heute keine Ruhe.

Martin Walser greift nach der Tasse mit Kaffee, die Tochter Johanna serviert hat. Er stürzt das noch siedend heiße Getränk hinunter und beginnt zu reden. Am Ende des Gesprächs wird es im Zimmer kalt und dunkel sein.

INTERVIEW: WOLFGANG PATERNO

profil: Ist Ihnen ein Tag in Erinnerung, an dem Sie kein Wort geschrieben haben? Martin Walser: Ich könnte jeden Tag geschrieben haben, außer als ich im Krankenhaus lag. Schreiben ist nicht der Entschluss, etwas zu tun, sondern Lebensart. Basta.

profil: Wie verhält es sich mit dem Lesen? Walser: Wenn man bereits als Kind süchtig zu lesen beginnt, ist nichts natürlicher, als selbst schreiben zu wollen. Ist man jung entflammt, ist es völlig stimmig, Gedichte zu schreiben. Meine erste, völlig wertlose Liebeslyrik bekam ich von der von mir Bedichteten kommentarlos zurück. Ich wusste nicht, wie ich das verstehen sollte. Ich habe nie nachgefragt.

profil: Günter Grass berichtete, dass ihn beim Schreiben der "Blechtrommel“ die Sprache als "Durchfall erwischt“ habe. Walser: Wenn Grass das so empfindet - bitte. Für mich war es stets eine Frage des Tons. Wenn ich den Ton eines Satzes finde, spüre ich das sofort. Ich sage: "Jetzt läuft’s.“ Ich bin bescheidener im Ausdruck.

profil: Die Wendung "Traumberuf Schriftsteller“ taten Sie bereits vor Jahren als Kinderei ab. Walser: Obwohl man alles Mögliche mitmacht, könnte ich mir keinen anderen Beruf vorstellen. Wenn man in das Lesen und Schreiben hineingerät, immer entschlusslos, einfach reagierend, kann man erst viel später darüber reden. Für einen selbst ist es keine Frage, dass man nichts lieber getan hat, als zu schreiben. Und irgendwann taucht der Gedanke an ein eigenes Büchlein auf. Mein erster Lektor bei Luchterhand hat mein Manuskript sofort akzeptiert. Dann schrieb mir Peter Suhrkamp einen wunderbaren Brief.

profil: Worauf Sie zu Suhrkamp wechselten. Walser: Später wanderte der Luchterhand-Lektor nach Kalifornien aus. Ich traf ihn auf dem Gelände der Stanford University, wo er in einer elenden Behausung lebte. Hier also war mein Lektor abgeblieben, an dessen Geschick ich mich schuldig fühlte. Mit diesem exemplarischen Verrat wurde die Zukunft eingeläutet.

profil: Ihr Werk ist inzwischen auf mehr als 60 Titel angewachsen. Walser: Das Lesepublikum sieht Romane und Erzählungen. Mir ist jedes neue Buch ein neuer Ton. An nichts sind meine Erinnerungen so deutlich wie an die ersten Sätze meiner Bücher. "Bis er sie sah, hatte sie ihn schon gesehen“, so beginnt "Ein liebender Mann“. Meine ganz und gar norddeutsche Lektorin konnte damit nichts anfangen, weil es Hochdeutsch heißen müsste: "Als er sie sah, hatte sie ihn schon gesehen.“ Für mich gibt es keine andere Möglichkeit, als "bis“ zu schreiben. Ich kenne keine Grammatik, die das verlangt. Da muss man seine Herkunft verteidigen.

profil: Ihr jüngster Roman "Statt etwas oder Der letzte Rank“ beginnt so: "Mir geht es ein bisschen zu gut.“ Walser: Da muss man ja weiterschreiben, um zu erfahren, was los ist. In diesem "zu“ steckt eine Provokation. In dem Roman bekommt man später mitgeteilt, besagter Satz sei von einem Feind geliefert worden. Da wird es noch nötiger, zu schreiben, warum.

profil: 1966 notierten Sie in Ihr Tagebuch: "Was ich brauche: Geld, Gesundheit, Ruhe, Frauen, Wechsel, Beliebtheit, Verehrung, etwas Ruhm, etwas mehr Ruhm, allen Ruhm und eine neue Sommerhose.“ Walser: Für Wünsche dieser Güte führt man Tagebuch. Ich könnte ohne es nicht existieren. Tagebuchschreiben ist wie das Schreiben selbst: Sätze tauchen auf, und die Innenwelt im Kopf produziert Sätze wie diesen: "Ich bin die Asche einer Glut, die ich nie war.“ In welchen Roman würde so etwas passen?

Genuss und Ruhm gehen nicht zusammen. Man hat ja auch beim Schreiben nichts davon.

profil: Sie zählen zu Deutschlands berühmtesten Schriftstellern. Können Sie Ihren Ruhm genießen? Walser: Wie genießt man Ruhm? Bei einem erstklassigen Bordeaux Château Margaux, Jahrgang 1978, habe ich ein sofortiges Genusserlebnis. Genuss und Ruhm gehen nicht zusammen. Man hat ja auch beim Schreiben nichts davon. Es war mir auch immer ein bisschen peinlich, wenn ich beim Zugfahren erkannt wurde. Wenn mir jetzt jemand aus dem Zug hilft, dann nur deshalb, weil ich alt und gebrechlich geworden bin, nicht weil man mich kennt. Natürlich habe ich nichts dagegen, bekannt zu sein. Das wäre ja auch lächerlich.

profil: Hilft Bekanntheit innerhalb des Literaturbetriebs? Walser: Berühmtheit ist oft ein zweifelhafter Vorteil. Ich durfte feststellen, dass es gelegentlich vorkam, dass Kritikerinnen und Kritiker von minderer Bekanntheit sich an mir gütlich taten. Ich merkte, es tut ihnen richtig gut, mich fertigzumachen.

profil: Elke Heidenreich sprach von "ekelhafter Altmännerliteratur“. Walser: Heidenreich hat sich auch an mir ausformuliert. Nach drei meiner Bücher, in denen deutlich ältere Männer junge Frauen verehrten, erschien 2008 "Ein liebender Mann“. Goethe ist darin 72, seine Geliebte Ulrike 19. Damals kamen keine Vorwürfe. Goethe darf offenbar altmännergeil sein.

profil: Sie wurden von einem Kritiker ihrer hohen Romanproduktion wegen der VW unter Deutschlands Autoren genannt. Walser: Das sind sehr gute Autos. Der versteht nichts davon. Wenn er wenigstens gesagt hätte: der Opel unter den Literaten. Da wäre mir die Firma nicht so nah.

profil: Wie erklären Sie Ihre enorme Produktivität? Walser: Ich bin nicht rechtzeitig gestorben. Den Roman "Das dreizehnte Kapitel“ schrieb ich mit 85. Wenn ich ihn früher hätte schreiben können, hätte ich es getan. Das Buch ist ein reiner Sprachliebesroman, in einer Zeit, in der ständig neue Sensationen vom Geschlechtsverkehr publiziert wurden.

profil: "Das dreizehnte Kapitel“ erhielt 2012 hymnische Kritiken. Walser: Dazu gesellen sich die überbordend positiven Reaktionen der Leser. Ich will nicht sagen, dass ich es ohne sie nicht geschafft hätte. Es ist aber auch nur ein bisschen übertrieben, wenn man formuliert, diese Anteilnahme verschafft einem die Illusion, in einer Gemeinschaft zu leben. Du bist nicht allein! Du kannst schreiben, was du willst und kannst. Leser schreiben über meine Bücher - und schreiben im Grunde über sich selbst. Das ist das Höchste: zu erleben, wie jemand von sich schreibt, was er ohne ein Buch so nie getan hätte. Einsamkeit wird da zum Fremdwort.

profil: Ihre jüngste Publikation "Ewig aktuell“ versammelt Aufsätze, Äußerungen und Reden aus mehr als einem halben Jahrhundert. Wenn Sie auf Ihre politischen Aktivitäten, den Streit, die mitunter langjährigen Debatten zurückblicken - wie denken Sie heute darüber? Walser: In den 1960er-Jahren war ich gegen die Amerikaner in Vietnam. Auf dem Münchner Marienplatz hielt ich Reden gegen diesen Dreckskrieg. In Deutschland gab es damals den stehenden Ausdruck, man müsse sich auf dem "Boden des Grundgesetzes“ bewegen. Wenn man dort aber, wie ich anscheinend, nicht auffindbar war, wurde man über Nacht zum Kommunisten. In den 1970er-Jahren stellte ich mich gegen die deutsche Teilung. Sofort wurde ich zum Nationalisten gestempelt. Die öffentliche Rangiermethode schiebt dich von da nach dort. "Ewig aktuell“ ist eine politische Biografie, wie man sie besser nicht haben kann.

profil: Bleibt Ihre umstrittene Paulskirchenrede von 1998, in der Sie die Instrumentalisierung von Auschwitz beklagten, auch ewig aktuell? Walser: Bald wird dazu im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel“ ein Postskriptum erscheinen. Die Rede von der Instrumentalisierung war ein echtes Versäumnis, das zu den blödesten Missverständnissen geführt hat. Ignatz Bubis, der ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden, glaubte damals, ich rede über die jüdischen Ansprüche. Gezielt hatte ich aber auf meine damaligen Freunde Walter Jens und Günter Grass, die gemutmaßt hatten, die deutsche Teilung sei eine Strafe für Auschwitz. Das ist dermaßen dumm, so wenig geschichtlich gedacht. Jens und Grass wollte ich 1998 aber namentlich nicht nennen.

Kein anderer deutschsprachiger Autor hat über dieses Thema in 50 Jahren so viel geschrieben wie ich. Und ich soll der Antisemit vom Dienst sein?

profil: Nach der Rede wurden Sie von einem Schlagzeilengewitter heimgesucht. Walser: 1998 lag in fünfter Auflage mein Roman "Die Verteidigung der Kindheit“ vor, die Geschichte einer Mutter-Sohn-Liebe in Zeiten der deutschen Teilung, in dem ein junger, aus der DDR stammender Jurist in Westberlin jüdische Ansprüche vertritt. Das entsprechende NS-Wiedergutmachungsgesetz nennt er eine "Illusion“. Er vertritt eine Frau namens Nelly Pergament gegenüber den deutschen Behörden. In dem Buch heißt es, er würde am liebsten nach Haifa fliegen und sich auf Pergaments Bett setzen. Er will ihr den Sohn ersetzen.

profil: Bubis hat den Roman offenbar nicht gelesen. Walser: Es ist ein trauriger Zustand, den ich nicht ändern kann. 1998 wurde ich allein nach der Rede beurteilt, kein Mensch richtete nach dem Roman. Niemand stellte sich die Frage, weshalb ich mir in meinen Reden und Büchern scheinbar widerspreche. Ich will immer nach meinen Romanen verstanden werden, nie nach meinen Reden. Das ist mir nicht gelungen.

profil: Ihr Buch "Tod eines Kritikers“, in dem 2002 ein recht unverschlüsselt Marcel Reich-Ranicki nachgebildeter Publizist einem mordlüsternen Plan zum Opfer fallen soll, wurde als Roman kritisiert. Walser: Ein weiterer scheußlicher Skandal. Bereits 2002 urteilte Reich-Ranicki in München, das Buch sei kein antisemitischer Roman, miserabel zwar, aber nicht antisemitisch. Frank Schirrmacher, der damalige Herausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, brauchte aber eine Sensation.

profil: Machen Sie es sich da nicht zu einfach? Walser: Man kann sich nicht genug wundern. Im April 2002 wurde das Manuskript des Romans zum Vorabdruck an die "F.A.Z.“ geschickt. Der verantwortliche Redakteur rief mich am Freitag an: "Wunderbar, Herr Walser, natürlich bringen wir das. Schirrmacher wird über das Wochenende lesen. Am Montag laden wir dann Reich-Ranicki zum Abendessen ein. Sie sind der Überraschungsgast.“ Am Montag dann der nächste Anruf: "Schirrmacher hat den Text gelesen, Sie werden es morgen im Blatt sehen.“ Damit hatte Herr Schirrmacher den öffentlichen Ton für alle angeschlagen, die ohnehin etwas gegen mich hatten.

profil: Bald wurden Antisemitismusvorwürfe laut. Walser: Erlauben Sie mal! Kein anderer deutschsprachiger Autor hat über dieses Thema in 50 Jahren so viel geschrieben wie ich. Und ich soll der Antisemit vom Dienst sein? "Unser Auschwitz“ schrieb ich bereits 1964 als Beobachter im Auschwitz-Prozess. "Auschwitz und kein Ende“ entstand 1979. Damals hielt ich eine Rede, ich eröffnete auf einem Schloss in der Nähe von Bonn eine Ausstellung von Zeichnungen ehemaliger Häftlinge. Ich dachte mir, ich halte die Rede in einer Kulturgegend. Der 22-jährige Goethe beglückte seine Freunde am Shakespeare-Tag mit der Rede "Shakespeare und kein Ende“. Wenn ich von "Auschwitz und kein Ende“ schreibe, wird dem Publikum wohl was einfallen. Kein einziger von diesen pseudogebildeten Zeitgenossen hat daran auch nur eine Sekunde lang gedacht.

profil: Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an das Jahr 1998 denken, besonders? Walser: An die Scheußlichkeit, mit welcher der Skandal über mich hereingehagelt ist. Vor nichts schreckte man zurück. In meinem Leben ist mir nichts passiert, das so ekelhaft war wie diese Zeit. Ich konnte nirgends auftreten ohne organisierte Sprechchöre. "Sie haben hier nichts zu sagen“, wurde ich angeschrien.

Das Volk will Trump darstellen. Hitler hätte keiner darstellen wollen. Amerika wird Trump zähmen.

profil: Was ist noch passiert? Walser: Vor einer Erfurter Kirche hatte sich Polizei positioniert. In der Kirche stand ein Stehpult vor dem Altar, an dem ich einen Vortrag halten sollte. Als mich einer aus der ersten Reihe bedrohte, habe auch ich mich ihm gegenüber ein wenig körperlich gezeigt, weil er mich wegzudrängen versuchte. Da schrie er aus Leibeskräften: "Rühren Sie mich nicht an! Mein Vater ist Staatsanwalt!“ Da wusste ich, mit wem ich es zu tun hatte. Bürgerliche Sprösslinge, die Radau machen.

profil: Stürzen Sie sich noch immer ins Getümmel der Welt? Und wie beantworten Sie die Frage der Saison: "Wie halten Sie es mit Trump?“ Walser: Ich schaue mir jedes Jahr die TV-Fasnacht "Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht“ an. Einer hat heuer Trump nachgemacht, die Bewegungen, dazu diese Haare, die Figur. Das fand ich vorzüglich. Ein Trump-Imitator, der Deutsch und Englisch spricht, der das Bedürfnis "Trump“ befriedigt. In derselben Sendung trat auch ein schmuckloser Intellektueller auf, der die übliche Anti-Tramp-Suada, viel intelligenten Schimpf absonderte, was gar nicht mehr Fasnacht war, sondern Meinung, Meinung, Meinung. Das Volk will Trump darstellen. Hitler hätte keiner darstellen wollen. Amerika wird Trump zähmen. Reines Entweder-Oder ist auch hier lächerlich. Wenn ich nicht für ihn bin, bin ich doch keinesfalls gegen ihn. Dazu reicht es bei mir nicht.

profil: Auf dem Kontinent der Literatur haben Sie viel erlebt. In Ihrem Leben auch? Walser: Das Schlimmste und Schönste habe ich als Schriftsteller erfahren. Hätte es die Sprache nicht gegeben, es hätte mich nicht gegeben. Kürzlich schrieb ich den Essay "Die Sprache, die deutsche“, eine Liebeserklärung, angefangen vom Alemannischen bis zum Hochdeutschen. Ohne Mundarten wäre der Föderalismus ein abstraktes Gespenst. Zugleich wimmelt das Deutsche von Exporten. Die deutsche Sprache ist also auch Willkommenskultur. In meiner Lebenszeit ist etwa das Wort "trist“ aufgenommen worden, vor 100 Jahren sagte man das noch nicht. Die allerjüngsten Importe kommen bei mir nicht mehr vor. Dennoch erlebe ich mit Freude, wenn jemand "cool“ statt "toll“ sagt.

profil: Fürchten Sie, dass die Literatursüchtigen aussterben? Walser: Dieses Gerücht kenne ich. Die Literatur wird von sorgsamen Menschen wie ein Kranker behandelt, der bald sterben wird. Die Jeremiade von der Schule, die das Lesen nicht mehr lehre, teile ich aber nicht. Wenn ein Lehrer sich Kindern als Leser und nicht als Pädagoge verständlich machen kann, wenn er spricht, wie nur ein Leser und kein pädagogisch gebildeter Mensch es kann, werden Kinder weiterhin lesen. In meiner Abiturklasse nach dem Krieg waren wir 24, darunter drei Leser: Hartmut, Hans-Peter und ich. Drei von 24 gibt es immer noch.

profil: Doderer sagt: "Der Schriftsteller hat immer das letzte Wort.“ Walser: So heftig würde ich das nicht sagen. Es kann sein, dass die Literatur ausstirbt - der Schriftsteller nicht. Es wird weitergeschrieben werden.

profil: Engagierte Literatur wollte die Welt einst ändern. Walser: Ich bin zu der Einsicht gekommen, dass Literatur die Welt verklärt. Das hat sie mit der Religion gemein. Ich schreibe über alles so schön, wie es nicht ist. Ich bin im Verklärungsgewerbe tätig.

profil: In "Muttersohn“ sagt Ihr Protagonist Percy: "Immer, wenn ich darüber nachdenke, lande ich bei der Gewissheit, dass meine Hosenträger unsterblich sind.“ Finden Sie es nicht schrecklich, dass wir sterben müssen? Walser: Wer nicht? Ich fürchte aber, dass man das Sterben nicht lernen kann. Wenn ich schmerzfrei erwache, bin ich meinem Tod nicht näher als vor 30 Jahren. Ich rede und schreibe nur aus Erfahrung. Vom Sterben spreche ich deshalb nicht.

profil: Wie wollen Sie sterben? Walser: Am besten allein. Es könnte ja sein, dass ich mich schlecht benehme. Weiß der Teufel.

Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 11 vom 13.3.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.