Autor Politycki: „Das Gemurmel, das die Welt zusammenhält“

Im Frühjahr 2021 hatte der Schriftsteller Matthias Politycki genug von den deutschen Debatten um Cancel Culture, Identitätspolitik und Genderproblematik – und übersiedelte nach Wien.

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Karl oder Koarl? Matthias Politycki sitzt an einem heißen Junivormittag im Café Zartl und ergründet den Wiener Witz. Wer sich in Österreichs Hauptstadt einen Spaß erlaubt, macht sich bekanntlich einen Karl.

„Schreibt man Karl oder Koarl?“, ruft der Schriftsteller in das Klackern der Kaffeemaschinenkolben im Hintergrund. Er hat derzeit viele Fragen an die Stadt. Wiens windiges Wesen verlangt ihm gerade einiges an Grübelei ab.

Politycki, 67, lebt und arbeitet seit April 2021 im Wiener Bezirk Erdberg, gleich ums Eck vom Zartl. Seit Jahrzehnten reist der Romancier, Lyriker, Essayist und passionierte Langstreckenläufer um den Globus, als notorischer Anti-Stubenhocker hat er nach eigener Zählung knapp 100 Länder besucht. Der rote Faden seines Lebenslaufs ist schon öfter von mehrmonatigen Erkundungstouren in Asien, Afrika und Südamerika durchschnitten worden.

Politycki pflegt ein äußerst lustbetontes Verhältnis zur Welt, untermischt mit kaum je versiegender Neugier. Dem bunten Treiben auf dem Erdenrund hat er kluge Blicke geschenkt.

Polityckis Prosa, die Türen und Fenster zur Welt öffnet, ist der Beweis dafür: Eine Reise in die Zeit unternahm der Autor 1997 in seinem ersten Bestseller: „Weiberroman“ berichtete vom Liebeskummer eines Schwerenöters in den 1970er- und 1980er-Jahren. Der Roman „Herr der Hörner“ (2005) kartografierte auf 700 Seiten die Bucht von Santiago de Cuba. „Alle Geschichten kommen aus Samarkand“, gab Politycki schließlich seinem 2013 erschienenen Roman „Samarkand Samarkand“ über den Grenzgang eines Eigenbrötlers in der zentralasiatischen Stadt mit den vielen Sehenswürdigkeiten mit auf den Weg.

Alle Geschichten kommen von weit her. Es könnte eine Art Motto für Matthias Polityckis Erzählen sein.

Wien ist ihm mittlerweile nicht nur Zwischenstation auf seinen Reisen, eher so etwas wie ein sicherer Hafen. „Es ist kaum auszuhalten, wie in Deutschland dieser Tage diskutiert wird, in welchem Ton, über welche Themen“, sagt Politycki im Zartl.

„In Deutschland vermisse ich seit etlichen Jahren die Offenheit, abweichende Meinungen anzuhören, ernst zu nehmen, ja spannend zu finden. Irgendwann sagte meine Frau zu mir: ,Geh doch wieder mal für ein paar Monate nach Wien, das hat dir ja immer gutgetan.‘ Ein halbes Jahr später fassten wir, befeuert von ein paar Gläsern Wein, den verrückten Plan, mit Sack und Pack nach Wien zu ziehen.“ 

Das ist die eine Dimension von Polityckis Geschichte, die politische. Die andere betrifft ihn selbst. „Ich wollte nicht mehr in diesem geistigen Umfeld leben – vor allem aber konnte ich in Deutschland nicht mehr schreiben, was in Wien sofort wieder glückte.“

Das Resultat der Grenzziehung ist das Bändchen „Mein Abschied von Deutschland“. Der Essay ist keine Streitschrift für oder wider Cancel Culture, Identitätspolitik, Genderproblematik. 

„Ich hatte genug von kuratierter Wortwahl und vorstrukturierten Haltungsketten, wollte nicht länger zusehen, wie sich die Debattenräume Tag für Tag verengten“, schreibt Politycki: „Beides, die Belehrungsimpertinenz von links wie die Pöbelei von rechts, sind zwei Seiten ein und derselben Bankrotterklärung. Der Überdruss an unserem öffentlichen Gespräch scheint inzwischen weite Teile der Bevölkerung erfasst zu haben, vor allem das, was wir die ,Mitte der Gesellschaft‘ nennen. Wir halten uns selbst nicht mehr aus.“

Über 30 Bücher hat Politycki bisher geschrieben, gerade entsteht ein neuer Roman über Südäthiopien. „Die Kritik daran kommt ja oft ganz kumpelhaft daher, etwa wenn jemand glaubt, witzig zu sein, und mich anstänkert: ,Was, du als Weißer schreibst jetzt schon wieder einen Roman über ein afrikanisches Land? Geht das denn? Du bist dir hoffentlich schon im Klaren darüber, dass …‘ So was brauche ich nicht mehr. Ich verstehe mich als Schriftsteller nicht zuletzt auch als eine Art Sonderbotschafter. Was lange Zeit als Vermittlung fremder Kulturen gefeiert wurde, soll heute als illegitime Aneignung untersagt werden.“ 

Wer darf was denken, schreiben, tun? Was ist denn noch erlaubt? „Eine solch grassierende Selbstzensur ist das Anzeichen eines neuen Totalitarismus.“ Politycki plädiert dafür, das jeweilige Gegenüber in Diskussionen nicht reflexhaft anzublaffen oder wechselweise zum Hanswurst zu degradieren, die Selbsterhebung durch die Herabwürdigung anderer zu unterlassen. 

„Es sollte in einer Diskussion nicht darum gehen, zu gewinnen, sondern andere Haltungen mit guten Gründen zu kritisieren – und sie nicht reflexhaft mit plakativen Etiketten wie ,altmodisch‘, ,sexistisch‘ und ,konservativ‘ abzustempeln, die im Grunde ja bloß Emo-Signale einer vermeintlich richtigen Haltung sind, aber keine Gedanken. Liebe Leute, denkt doch mal nach: Wollt ihr wirklich nur mit euresgleichen leben, das Gleiche tun, das Gleiche denken?“

Politycki selbst hat sich nie tönerne Säulen getöpfert, auf denen seine Weltanschauung ein für alle Mal ruht. Großmäuligkeit und rhetorische Onkelhaftigkeit sind ihm fremd. Vielem, was die Zeit hinweggespült hat, weint er keine Träne nach. Zugleich nimmt er sich das Recht heraus, nicht mit allem, was die Gegenwart so umtreibt, restlos einverstanden zu sein. 

In „Mein Abschied von Deutschland“ tritt Politycki für die Rede-, Gedanken- und Meinungsfreiheit ein, indem er einen Ursache-Wirkungs-Bogen über Jahrzehnte hinweg spannt, statt nur vorwurfsvoll den Meinungsmond anzuheulen. „Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen so gründlich zu betreiben, bis alle schlechte Laune haben“, schreibt er in „Mein Abschied von Deutschland“. 

Es ist nicht die schlechteste Idee, sich gemeinsam mit Matthias Politycki, sehnige Gestalt, silbrige Stoppelfrisur, freundliches Wesen, auf eine kleine Wiener Weltreise zu begeben, vom Ausgangspunkt im Café Zartl mit Umweg Prater und Radetzkystraße zum Ziel, dem Kolonitzplatz im 3. Bezirk. 

Wer Politycki durch Wien begleitet, erfährt viel über Österreich und Kakanien, Debattensümpfe und Streitunkultur, Mafiamilieu und bemerkenswerte Möglichkeiten des Miteinanders. 

Da wäre einmal das Zartl in der Rasumofskygasse, Ecke Marxergasse, ehemaliges Stammkaffee von Robert Musil und Heimito von Doderer. „Das Zartl ist vor allem anderen ein Ort, an dem nichts passiert. Egal zu welcher Tageszeit, es ist, was es ist“, sagt Politycki, vor sich auf dem Tisch einen Schlagobers-Milchschaum-Traum.

„Ob vor den Fenstern Corona, Krieg oder Klimakrise wüten – in dem Augenblick, in dem man hier seinen Fuß über die Schwelle gesetzt hat, ist das alles für einen kurzen Zeitraum nur noch fußnotenmäßig relevant. An den Tischen dann dieses wunderbare Einebnen der Aktualitäten. Natürlich werden auch hier hochbrisante Themen besprochen, und das mit aller Leidenschaft. Alles zusammen ist aber nur das Gemurmel, das die Welt zusammenhält.“

Die Kellnerin räumt im Zartl den Tisch nicht ausgesucht freundlich ab. Wien und sein Servicepersonal, der Klassiker. Politycki sagt: „In Wien raunzt der Kellner den Gast gern an. In Deutschland wird man übertrieben freundlich gefragt: ,Alles klar?‘ In Wirklichkeit ist zwar überhaupt nichts klar, aber wenn man es anspräche, bekäme man meist nur ein Achselzucken. Besser, man raunzt einander an und macht die Sache wirklich klar. Mit dem sogenannten zivilgesellschaftlichen Engagement kann in Deutschland alles gerechtfertigt, jedes Nischenproblem zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe hochgejazzt werden – mit Wiener Hausverstand betrachtet oft die reine Humoreske. In Deutschland regiert eine latente Ordnungshörigkeit, auch wenn diese Ordnung in verschiedenen Subgesellschaften und Blasen inzwischen sehr unterschiedlich vorgegeben wird; in Österreich ist dagegen quer durch alle Subgesellschaften latenter Anarchismus mitzudenken. Klar, man muss auch hier die Regeln einhalten; die anarchischen Spurenelemente helfen aber, die gegebenen Regeln so flexibel zu interpretieren, dass die schlimmsten Auswüchse an Ordnungsfanatismus verhindert werden.“

Szenenwechsel. Wien erläuft sich Politycki buchstäblich. Seine Langstrecken plant er mit Kompass und Stadtkarten. Museums- und Theaterbesuche stehen derzeit nicht auf dem Plan. Wichtiger ist, die beste Bäckerei und die gut sortierte Eisenwarenhandlung zu finden. 

Der Prater ist Polityckis Laufrayon. Rehe, Hasen und ein in Blattgold erstarrter Gorilla vor einem Lokal kreuzen zuweilen seine Wege. „Bum bum bum“, dröhnt es an diesem Junivormittag aus einem Wirtshaus, dazu das Rattern von Rasenmähern. Der Sound des Sommers. 

Der richtige Zeitpunkt, um über Nietzsche zu reden. „Nietzsche schreibt, man müsse, ehe man eine Sache beurteilen könne, aus den verschiedensten Perspektiven auf sie schauen – und er wählt dazu das Bild eines Gebäudes, das aus jedem Fenster einen anderen Blick auf ein und dieselbe Sache bietet“, sagt Politycki im langen Schatten von Riesenrad und Freifallturm. 

„Aus dem Erdgeschoss präsentiert sich die Bodenbepflanzung anders als aus dem Fenster im vierten Stock. Miteinander umzugehen, indem man aus unterschiedlichsten Fenstern aufeinander blickt, ist eine hohe Kunst.“ Man unterstellt Politycki nicht zu viel, wenn man vermutet, dass er in „Mein Abschied von Deutschland“ ein sich ständig wiederholendes Foul anprangert – nämlich jenes des absichtsvollen Missverstehens. 

„Das bewahrt einen davor, ständig klare Kante zeigen zu wollen, wie es in Deutschland seit Jahren für das Zeichen intellektueller Integrität gehalten wird“, sagt er: „Klare Kante zeigen, das ist einfach, der größte Ignorant kann es: eindeutige Emotionen ins Feld führen, wo differenziertes Bedenken höchst widersprüchliche Ergebnisse brächte.“ 

Apropos „brächte“. Politycki ist in seinem Schreiben ein Meister des Konjunktivs. Er kann seine Leidenschaft für die Möglichkeitsform sehr plastisch erklären: „In Hamburg geht man in eine Fleischerei und lässt das Personal hinter der Theke wissen: ,Ich bekomme 100 Gramm Salami.‘ In Wien formuliert man eine Bitte: ,Ich hätte gern zehn Deka Salami.‘ Ehre dem Konjunktiv! Er ist ein großes Welterkennungsmittel. Er schärft die Wahrnehmung überall dort, wo man vor lauter Indikativen schon alles im Griff zu haben scheint. Wer ihn als Irrealis abtun will, versteht nicht, welche vielfältigen Möglichkeiten er bietet, um die Welt wieder so kompliziert zu verstehen, wie sie eben hinter dem Faktischen und Indikativischen ist. Erst der Konjunktiv ermöglicht den ganzen Reichtum des Denkens. Vielleicht ist es das Bewusstsein, dass hinter all dem, was wir sehen und was festzustehen scheint, jede Menge Konjunktive versteckt sind, das uns durch Nietzsches Fenster blicken lässt, mit immerwährender Neugier.“

Am Radetzkyplatz, dem aufgehübschten Zwilling des nahen Kolonitzplatzes, dem Endpunkt der Wienwanderung, wird Theater gespielt. Auf dem Areal mit dem Verkehrsknotenpunkt von Autos, Fahrrädern, Straßenbahnen und ÖBB-Garnituren verweilt Politycki gern im Gastgarten des Café Menta. 

„Sitzt man an einer bestimmten Stelle, drückt sich keinen Meter von einem entfernt in regelmäßigen Abständen die Straßenbahn vorbei – die ganze Welt ist dann plötzlich nur noch Rot-Beige, und vor lauter Quietschen hört man auch nichts anderes. Sobald die Tram vorbei ist, öffnet sich der Vorhang, man sieht die Hochbahntrasse, auf der die überregionalen Züge verkehren. Alles ist plötzlich wieder weit und auch hinterm Horizont als Möglichkeit da, es stehen sogar schon Palmen bereit. Das ist für mich Österreich: In regelmäßigen Abständen ganz auf sich selbst zurückgewiesen, im nächsten Moment schon wieder mit der Perspektive auf die ganze Welt.“ 

Ankunft am Kolonitzplatz. Das Gotteshaus mit türkischem Halbmond und christlichem Morgenstern an der Kirchturmspitze als wortgetreu alles überragendes Toleranzsymbol. Gleich nebenan das Palais des Beaux Arts mit den beiden Weltkugeln am Dach.

Dazu das Kolonitz-Beisl, in dem es unter anderer Bezeichnung vor Jahrzehnten zum Mafia-Showdown kam. Viel Blut und Polizei. 22 Männer in der Arrestzelle, die behaupteten, zur Tatzeit allesamt auf dem WC gewesen zu sein. „Einer hat gesagt, er sei nicht auf dem Klo gewesen“, berichtet Stadterkunder Politycki über seine Recherchen: „Er habe hingeschaut, aber nichts gesehen. Besser geht’s nicht.“

Ein Grätzel, wie geschaffen für Politycki. Langsames Ende der Wienwanderung, Mittagspause mit Take-away-Pizza am Kolonitzplatz. Ein letztes Gespräch über die neue Wahlheimat. „In Österreich wirkt die Habsburgermonarchie nach, die bereits ein diverses Gebilde war, ohne dass es diese Vokabel dafür schon gegeben hätte“, sagt Politycki mit Dosen-Cola und Salamipizza im Karton auf dem Schoß.

„Man musste mit den Minderheiten einen Ausgleich finden, man hat herumgewurstelt und Kompromisse geschlossen. Aufgrund dieser über Jahrhunderte verfeinerten kulturellen Technik verfährt man auch im heutigen Österreich mit abweichenden Meinungen gelassener, man sieht sie gleichsam noch immer im riesigen kakanischen Denkhorizont. Als Matrix wirkt das bis heute nach. Abgesehen davon, dass man Abweichungen so lange kleinreden kann, bis sie niemandem mehr wehtun, kann man hier auch einfach mal darüber lachen, das entschärft jeden potenziellen Konflikt von vornherein. So gut wie niemand ist um eine witzige Formulierung verlegen – mit Humor hält man viele Thesen nebeneinander ganz gut aus.“

Österreich, die kleine Welt, in der die große ausnahmsweise nicht ihre Probe hält.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.