Netflix: Der Streamingdienst florierte im Jahr 2019

Online-Fernsehen statt Kinobesuch: Der boomende Streamingdienst Netflix machte Hollywood 2019 heftiger denn je Konkurrenz.

Drucken

Schriftgröße

In der beschaulichen kalifornischen Kleinstadt Los Gatos, die man einst nach den Raubkatzen benannt hat, die in jener Gegend heimisch sind, läuft das Leben in deutlich ruhigeren Bahnen als in der Business-Metropole Los Angeles – suburbanes Feeling, 40.000 Einwohner, Grünruhelage, ausgestattet mit einer Geschichte, die auch alten Hollywood-Adel einschließt: Die beiden späteren Filmstars Olivia de Havilland und ihre Schwester Joan Fontaine besuchten in den frühen 1930er-Jahren hier die Highschool. Aber der Gegenwartsfilm hat in dieser Stadt, fernab der klassischen US-Kinoindustrie, durchaus einen Hauptschauplatz: Im Zentrum von Los Gatos findet sich das Headquarter des Streaming-Giganten Netflix, rund 550 Kilometer (oder eine gute Flugstunde) von Hollywood entfernt. Die Distanz ist freilich relativ: Vom Building A, dem Netflix-Firmencampus, ist man mit dem Auto in 15 Minuten am Flughafen von San José – 20 bis 25 Direktflüge nach Los Angeles täglich. Rund 7000 Mitarbeiter hat der Konzern inzwischen, der im Silicon Valley, im Süden der San Francisco Bay, wo auch Facebook, Google, Apple und PayPal sitzen, der Welt der IT- und Hightech-Unternehmen programmatisch verbunden bleibt.

"Gefahr für Kinogänger"

Netflix ist der verhaltensauffällige Neuzugang im Film-Kindergarten: Nicht alle lieben ihn, aber auf dem Weg zum Spielplatz kommt keiner mehr an ihm vorbei. Er würde niemals mit Netflix arbeiten, erklärte „Batman“- und „Dunkirk“-Regisseur Christopher Nolan noch 2017, da die Filmpolitik der Firma – sie stellt ihre Produktionen praktisch zeitgleich mit den Kinopremieren online – „geist- und sinnlos“ sei, zudem die Kinoerfahrung unterminiere. Netflix sei, gerade weil es dort so viel schreiberisches, darstellerisches und inszenatorisches Talent gebe, „eine eindeutige und unmittelbare Gefahr für Kinogänger“, sekundierte wenig später auch Steven Spielberg: Sobald man sich mit einem TV-Format einlasse, produziere man Fernsehfilme.

Ein Gespenst geht seit damals um, nicht nur in Hollywood: Wird das Kino, wie wir es kennen, von bösen Online-Unterhaltungskonzernen um die Ecke gebracht? Die Anzeichen sprechen dafür: Netflix investiert inzwischen jährlich drei bis fünf Milliarden Dollar mehr in seinen Film-Content, als an US-Kinokassen insgesamt eingespielt wird. Von den 11,9 Milliarden Dollar, die in amerikanischen Kinos 2018 lukriert wurden, wird man heuer ohnehin nur träumen können. Man rechnet mit Rückgängen von ein bis zwei Milliarden Dollar. Ein tektonisches Beben ereignet sich in der globalen Unterhaltungsindustrie buchstäblich vor unseren Augen, ein radikaler Paradigmenwechsel, den Video-on-Demand-Dienste wie Amazon Prime Video, HBO und Netflix enorm beschleunigen. Seit die Streaming-Riesen nicht mehr nur Filme zeigen, die zuvor im Kino ausgewertet wurden, sondern in großem Stil Eigenproduktionen vorlegen, sprechen Apokalyptiker einmal mehr vom drohenden Untergang des Kinos. Dieser wird allerdings seit Jahrzehnten an die Wand gemalt: In den 1950er-Jahren gefährdete das neue Medium des Fernsehens die Entertainment-Hegemonie des Kinos; die Einführung des Videorekorders um 1980 und schließlich der Internet-Boom sorgten ebenfalls für Erregung größerer Verdrängungsängste.

Branchenvertreter stoßen sich insbesondere an der Praxis des theatrical window, einem direkt vor dem Online-Einsatz minimal bemessenen Kinostart im Großraum Los Angeles, der erst Zugang zu den ehrwürdigen Academy Awards ermöglicht. Filme, die nicht zumindest eine Woche in und um L.A. im Kino liefen, können laut Statuten keine Oscar-Nominierung erhalten. Bei den Emmys, den amerikanischen Fernsehpreisen, reüssiert Netflix bereits seit 2013; 2019 kumulierte man nicht weniger als 117 Nominierungen. Aber mit Fernsehen allein mag sich Netflix nicht mehr begnügen. Man peilt neben dem ökonomischen Erfolg auch noch Prestige und Glamour des großen Kinos an.

Das geht nicht ohne Blessuren ab. 2017 wurde beim Festival in Cannes noch ohrenbetäubend gepfiffen, als zwei Netflix-Filme im offiziellen Programm ihre Weltpremieren feierten. 2018 schloss dass Festival Produktionen des Streamingdiensts vom Wettbewerb kategorisch aus, ließ sie nur noch für die Nebenreihen zu. Netflix reagierte beleidigt und zog sich aus Cannes komplett zurück. Die Festivalmacher in Berlin und Venedig freuten sich über den seither verhältnismäßig privilegierten Zugang zu den begehrten Netflix-Uraufführungen. In Deutschland boykottieren viele Kinobetreiber Netflix-Filme bis heute. Und Steven Spielberg kämpfte 2018 für den Ausschluss von Netflix bei der Oscar-Gala, biss aber auf Granit und zog sich sogar einen Verweis durch das US-Justizministerium wegen potenzieller Verletzungen des Wettbewerbsrechts zu.

Oscar-prämiert

So hat es Netflix geschafft, vom ungeliebten Konkurrenten und Kinofeind in die höheren Sphären der Hollywood-Elite aufzusteigen. Zwei Oscars gingen bereits 2017 und 2018 an Netflix, noch weitgehend unbemerkt zwar, weil es sich dabei um Auszeichnungen für Dokumentarfilme handelte. 2019 gelang der Durchbruch: Die drei Oscars für Alfonso Cuaróns mexikanisches Familien-Epos „Roma“ brachten das Unternehmen weltweit in die Schlagzeilen. Netflix hatte bewiesen, dass es nicht nur coole Serien, sondern auch großes Kino machen kann. Allerdings ging „Roma“ nicht als bester Film des Jahres durchs Ziel. In wenigen Wochen könnte es gelingen, auch diese letzte Grenze noch zu überschreiten. Denn wir befinden uns bereits wieder in der Award Season, in der traditionellen Jahreszeit der Preisverleihungen. Und Netflix steigt immer weiter auf: 34 Nominierungen für die Golden Globes, die am 5. Januar 2020 vergeben werden, gehen auf das Konto des Streamingdienstes; fünf Preischancen hat dabei Martin Scorseses Mafia-Drama „The Irishman“, Noah Baumbachs bittersüße Trennungsparabel „Marriage Story“ sogar sechs. Wenige Tage nach der Globe-Gala werden die Oscar-Nominierungen bekannt gegeben; dass die neuen Werke von Scorsese und Baumbach auch dort prominent vertreten sein werden, liegt auf der Hand.

Die sehr spezielle Karriere des Phänomens Netflix begann vor gut zwei Jahrzehnten. Als weltweit erster Online-DVD-Versanddienst setzte das Unternehmen 1998 an, mit 30 Mitarbeitern und einem Katalog von 925 Titeln – mehr Filme gab es damals nicht auf DVD. Drei Jahre später hatte Netflix bereits 300.000 Abonnenten. 2005 begann man darüber nachzudenken, das DVD-Geschäft durch Online-Streaming zu ersetzen; 2007 konnte man die ersten Filme – in alles andere als hochauflösender Bildqualität – im Netz abrufen. Noch Anfang 2013, als die erste eigene Netflix-Serie, der Kevin-Spacey-Politkrimi „House of Cards“, ihren Erfolgslauf begann, war das Unternehmen, das damals bei knapp 30 Millionen Kunden hielt, praktisch auf die USA beschränkt. Die globale Expansion ließ jedoch nicht lange auf sich warten. (Nach Europa hatte der Konzern erst 2012 expandiert, in Frankreich, Belgien und im deutschsprachigen Raum ist Netflix erst seit fünf Jahren abrufbar.)

Streaming als "primäres Filmlieferungssystem"

Martin Scorsese beklagte in der „New York Times“ Anfang November den Umstand, dass wir in einer „gefährlichen Zeit für das Vorführen von Filmen“ lebten: Es gebe weniger unabhängige Kinos denn je, und die Gleichung habe sich gedreht – Streaming sei inzwischen „das primäre Filmlieferungssystem“. Er kenne dennoch keine einzige Regiekraft, die ihre Filme nicht für die große Leinwand, für ein Kinopublikum inszenieren wolle. Als jemand, der gerade einen Film für Netflix vollendet habe, sei er davon selbst betroffen: Ohne Netflix wäre „The Irishman“ nicht zu realisieren gewesen, räumte Scorsese ein; keines der großen Hollywoodstudios sei dazu bereit gewesen. Dafür werde er Netflix bis an sein Lebensende dankbar sein. Er freue sich über die kurze Zeit, die man den Film auch im Kino habe einsetzen können – „aber würde ich ihn lieber über längere Zeit auf viel mehr großen Leinwänden sehen? Natürlich würde ich das.“

Die Netflix-Nation hat inzwischen mehr Einwohner als Russland oder Mexiko: Über 160 Millionen zahlende Kunden verfügt Netflix aktuell, und seine Bosse – Gründer und CEO Reed Hastings sowie Content Chief Ted Sarandos – agieren weiterhin risikofreudig. Das geschätzte aktuelle Jahresbudget ist gleich hoch wie der jährliche Umsatz: 15 Milliarden Dollar. 371 neue Serien und Filme hat man 2019 produziert, 50 Prozent mehr als 2018.

Und doch kommen herausfordernde Zeiten auf Netflix zu. Abos beim gerade eröffneten Online-Konkurrenten Disney+ kosten deutlich weniger, und dort werden die Marvel-Superhelden, die „Star Wars“-Serie und die Pixar-Trickfilme aufgeboten. Zudem verlangsamt sich der weltweite Netflix-Imperialismus. Das war absehbar, aber Sarandos predigt in internen Memos bereits mehr Kosteneffizienz. Den stetig steigenden Ausgaben, die in Filmherstellung (fast die Hälfte des Netflix-Angebots besteht bereits aus Eigenproduktionen) und Lizenzkäufe fließen, steht ein zu geringes Wachstum gegenüber. Der ökonomische Druck, der nicht zuletzt aufgrund der anhaltenden Macht des Konkurrenten Amazon Prime Video und der Etablierung neuer US-Streaming-Riesen (Disney+ verzeichnete innerhalb weniger Wochen allein in Nordamerika fast 20 Millionen Abonnenten) auch auf dem Marktführer Netflix lastet, könnte bald zu Preisstürzen führen. Aktuell testet Netflix angeblich ein Jahresabo-Modell, das nur rund halb so teuer wäre wie zwölf Monatszahlungen. Und noch immer zeigt der Konzern seine Inhalte vollkommen werbefrei.

Wie lange noch? Raubkatzen sind nicht nur schlau, sie sind auch gefräßig.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.