Kino

Paradoxe Intervention: Christopher Nolans Kino-Atomoper „Oppenheimer“

Nolans Porträt des US-Physikers J. Robert Oppenheimer, dessen Forschung zur Entwicklung der ersten Nuklearwaffe führte, ist eine Zumutung: die dreistündige Charakterstudie eines widersprüchlichen Genies – ein Film, der in aller Detailversessenheit von der menschlichen Vernichtungslust erzählt.

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Als J. Robert Oppenheimer, den der irische Schauspieler Cillian Murphy hier mit gespenstischer Intensität darstellt, seine Forschungsergebnisse zu Kernspaltung, Neutronenbeschuss und Kettenreaktionen erläutert, betont er, dass all dies eigentlich unmöglich sei – und dennoch stattfinde. Es sei paradox, und doch funktioniere es.

Die Szene ist programmatisch, denn der produktive Widerspruch ist das leitende Prinzip jener Kinoerzählung, die der britische Regisseur Christopher Nolan schlicht „Oppenheimer“ genannt hat: ein modernistisches Historiengemälde, in dessen Zentrum ein Wissenschafter steht, der einen der entscheidenden Wendepunkte in der Geschichte der Menschheit verantwortete – der Böses schuf, um Gutes zu tun.

Dieser Mann arbeitete nicht bloß mit paradoxen Hypothesen, er war auch selbst ein Zerrissener, ein zwischen politischem Auftrag und humanistischem Denken tief Gespaltener: Einerseits hielt er es nicht nur für legitim, sondern sogar für unumgänglich, die denkbar erschreckendste Massenvernichtungswaffe zu lancieren, um den Faschismus zu bekämpfen und die sogenannte freie Welt mit dem ultimativen Druckmittel zu versorgen; andererseits fühlte er „Blut an seinen Händen kleben“, seit im August 1945 die von ihm und seinem Team konstruierten Atombomben in Hiroshima und Nagasaki detoniert waren und mehrere Hunderttausend Menschenleben gefordert hatten. Oppenheimer fantasierte sich als eine Art Wiedergänger des mythologischen Titanen Prometheus, der den Göttern das todbringende Feuer entwendete und es den Menschen übergab, diese mit Wissen ausstattete und zivilisierte.

Der Nuklearphysiker Oppenheimer leitete ab 1942 ein militärisches Forschungsunternehmen, dem man den unauffälligen Namen „Manhattan Project“ gegeben hatte – mit dem Ziel, die USA zur ersten Nation zu machen, die Nuklearwaffen besitzen sollte. Wenige Jahre nach dem Krieg wurde Oppenheimer vom Helden zum gefallenen Engel: In der Ära McCarthys wurde er wegen seines linksliberalen Engagements und seiner Kontakte zu kommunistischen Kreisen als illoyal angefeindet, in Ausschüssen verhört, schließlich mit Privilegienentzug bestraft.

Spektakelregler auf 11

Regisseur Nolan dreht in der Nacherzählung dieser Story den Spektakelregler auf 11, zugleich spielt seine Inszenierung aber größtenteils an wenig beeindruckenden Schauplätzen, in den schmucklosen Wohnräumen und Laboratorien seiner Figuren. Die Bildgewalt, die Nolan dennoch mobilisiert, ist subtiler als im amerikanischen Prestige-Kino gewohnt, er wendet sie, indem er sich auf die Psyche seines Protagonisten konzentriert, gleichsam nach innen; Nolan arbeitet sich an den Gesichtslandschaften seines All-Star-Ensembles ab (neben dem mit stechend blassblauem Blick agierenden Murphy treten Schauspielkapazitäten wie Florence Pugh und Emily Blunt, Matt Damon, Benny Safdie und Robert Downey jr. in zentralen Rollen auf) und lässt elektrifizierende Close-ups von Laborexperimenten aufblitzen.

Die fast durchgehend präsente Musik des Schweden Ludwig Göransson schrillt in den Ohren, flutet bisweilen sogar die Dialoge, überdeckt die dramatisch ausgetauschten Worte, als gehe es gar nicht mehr darum, deren konkrete Bedeutung zu erfassen, nur noch um die größeren Zusammenhänge: „Oppenheimer“ ist eine Nuklearoper, deren Libretto von der militärischen Aggressionslogik des 20. Jahrhunderts geschrieben wurde. So erscheint der Film zuletzt auch in der Wahl seiner Mittel widersprüchlich: Nolans betont klassische Bildsprache und Dramaturgie (historische Ausstattung, konventionelle Biopic-Erzählmuster, im Schuss-Gegenschuss-Verfahren exekutierte Dialogszenen) laufen dem innovativen Einsatz analogen IMAX-65-mm-Filmmaterials zuwider, das eine ungeahnte Feinnervigkeit besitzt.

Insofern wirkt „Oppenheimer“ geradezu strapaziös auf die Sinne. Die komplexen politischen Intrigen und wissenschaftlichen Debatten, die an sich schon dazu angetan wären, über die Laufzeit von drei vollen Stunden ermüdend zu wirken, werden straff, fast atemlos vorangetrieben. Dazu kommt aber eben noch das akribische Sound-Design, das zwischen Überorchestrierung, Detailversessenheit und jäher Tonlosigkeit changiert. Als am 16. Juli 1945 die Atombombe zu Testzwecken in der Wüste von New Mexico erstmals gezündet wird, sorgt dies für einen langen Moment der absoluten Stille im Kino: Der blendende Feuerball in der Entfernung wächst in den Himmel, ehe der ohrenbetäubende Knall, der Donner der flächendeckenden Zerstörung einsetzt.

Pathos und Dekor

Die sensorische Zumutung ist beabsichtigt. Die Überfülle einer kleinteiligen Erzählung, in der das historisch Objektivierbare auf die Traumata des Helden trifft, mag erschöpfend anmuten; die Anstrengung, einen populären Film mit existenziellem Fall-out derart zu belasten, ist jedoch respektabel. Alles an diesem Werk ist „pomp and circumstance“, um es in Shakespeares Worten zu sagen: Nolan veranstaltet eine wohlweislich ambivalent in Szene gesetzte Zeremonie für einen Zerrissenen. Der Lärm, den „Oppenheimer“ macht, wird nicht, wie in Hollywood weit verbreitet, dem schönen Nichts zuliebe entfesselt, er gilt vielmehr dem großen Ganzen, dem verheerenden Zustand der Welt – und unserer Gegenwart: Nolan erzählt die Vorgeschichte einer globalen Verwüstung, die uns immer noch (und möglicherweise mehr denn je) bedroht.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.