Tatsächlich könnten KIs unser Leben auch in zahllosen anderen Feldern erleichtern, uns all die öde Bürokratie, all die repetitiven Handgriffe und geistlos zu verrichtenden Arbeiten abnehmen, in die so viel leere Zeit fließt. Während letzthin eine Gruppe von KI-Apokalyptikern mit ihren Fantasien einer nahenden Auslöschung des Homo sapiens durch unkontrollierbare Maschinen die Schlagzeilen beherrscht hat, rechnen namhafte Tech-Optimisten mit ganz anderen Konsequenzen und bislang ungeahnten Möglichkeiten: Der legendäre New Yorker Zukunftsforscher, Erfinder und Transhumanist Ray Kurzweil, 77, hat etwa unlängst in einem ausführlichen Interview in der „Zeit“ gemeint, dass wir in 20 Jahren „in einer völlig anderen Welt leben werden, als wir sie bislang kennen“. Technischer Fortschritt habe das Leben der Menschen „fast immer verbessert“, egal ob man die Medizin, die Ingenieurskunst oder die Biologie betrachte. Auch die gerade in Fahrt gekommene KI-Revolution werde Großartiges für uns bewerkstelligen können. Man altere, so Kurzweil, in der westlichen Welt schon jetzt aufgrund des wissenschaftlichen Fortschritts durchschnittlich nur noch acht Monate jedes Jahr. Und er spricht einen ungeheuerlichen Satz gelassen aus: „Wir werden an einen Punkt kommen, an dem wir nicht mehr wirklich am Alter sterben werden.“
Der britische Neurowissenschafter Demis Hassabis, 49, Gründer sowie CEO des im Google-Konzern veror-teten KI-Forschungsunternehmens DeepMind, hat 2024 für die Erstellung einer medizinisch nutzbaren Software zur Vorhersage komplexer Proteinstrukturen den Chemie-Nobelpreis erhalten; er meinte vor einigen Monaten schon in einem Interview in derselben Zeitung: „In dem Maß, in dem diese Systeme sich zunehmend selbst optimieren, werden sie Fantastisches leisten, Krankheiten heilen und den Klimaschutz unterstützen können. Ich glaube, wir werden von ihnen alles bekommen, was wir uns als Gesellschaft von ihnen wünschen.“ Aber: „Noch begreifen wir nichts vom Wesen der Wirklichkeit. Wir wissen nicht, worin das Wesen der Zeit besteht.“ Philosophische Grundfragen wie diese, glaubt Hassabis, werde man mit künstlicher Intelligenz jedoch erhellen können.
Unersättliche Neugier
Die Risiken einer möglicherweise mangelhaften Kontrolle und einer potenziell destruktiven Nutzung von KI-Systemen durch Terroristen oder Diktaturen leugnet Hassabis in seinem Fortschrittsglauben keineswegs. Aber es führe kein Weg daran vorbei, die eben erst aufblühende Technologie weiterzuverfolgen, denn „unsere Neugier ist unersättlich“. An der Entdeckung medizinischer Mittel, die jede denkbare Nebenwirkung verhindern sollen, werde beispielsweise bereits gearbeitet. Und noch sind es Ausnahmefälle, aber bestimmte KIs können schon heute, neben dem routinierten Rückgriff auf ihre Trainingsinhalte, unvermutetes neues Wissen zutage fördern.
Kurzweil, auch er arbeitet inzwischen bei Google, befasst sich bereits seit den 1970er-Jahren intensiv mit künstlicher Intelligenz, hat 1990 das Buch „The Age of Intelligent Machines“ veröffentlicht. Schon 2005 hat er prognostiziert, dass KI das Plateau menschlicher Intelligenz im Jahr 2029 erreichen werde – und dass 2045 die „Singularität“ einer alles bislang Denkbare übersteigenden kybernetischen Intelligenz vorliegen werde. Kurzweil sieht die Verschmelzung von Mensch und Maschine, die Befreiung von unseren biologischen Grenzen als „wunderbaren“ nächsten Schritt in der menschlichen Evolution, als die unausweichliche, aber auch bewusstseinserweiternde Konsequenz der rapiden technologischen Entwicklung. Mit der Maschine eins zu werden sei „der einzige Weg, nicht von ihr beherrscht zu werden“.
Tatsächlich ist die enge Kooperation zwischen Menschen und technischen Geräten weit fortgeschritten: Die meisten von uns sind ihren Smartphones und PC-Screens verfallen, sind von diesen bekanntlich kaum noch zu trennen; der Schritt hin zum digitalen Gehirnimplantat, das alles verfügbare Weltwissen direkt im Menschen zugänglich machen wird, ist da gar nicht mehr so weit. Ein solches Implantat wäre „Millionen Mal schneller als unser biologisches Gewebe“, sagt Kurzweil, und es würde dazu führen, dass „unser Bewusstsein exponentiell wachsen und unsere Intelligenz sich millionenfach ausdehnen“ würde.
Die technologische Entwicklung sei ohnehin, selbst wenn man das wollte, nicht aufzuhalten, sagen die Silberstreif-Futuristen; die Tech-Innovationskurve ist seit 1900, gänzlich unbehindert von Weltkriegen, Pandemien und Börsenkatastrophen, einfach immer weiter gestiegen – und zwar steil aufwärts. Und viele potenzielle Durchbrüche sind in den nächsten Jahren fällig, vor allem in Medizin und Klimaforschung: KI-getriebene Biosimulationen könnten für medizinische Quantensprünge sorgen, die Impfstoff- und Medikamentenentwicklung beschleunigen, à la longue sogar Krebs und Alzheimer besiegen. Und auch die Entfaltung erneuerbarer Energien ist zu erwarten. In fünf Jahren, glaubt Kurzweil, werden Großstädte ihren Stromverbrauch allein mit Solarenergie decken können.
Die deutsche Informatikerin Katharina Zweig teilt KI-Systeme in vier Kategorien ein: in jene, denen wir vertrauen können, weil wir die Ergebnisse ihrer Ratschläge und Hilfeleistungen überprüfen können; als Beispiel kann man eine im Auto zugeschaltete KI nennen, die nicht nur die Motorengeräusche überprüft und zur Reparatur rät, wenn diese vom gewohnten Klang abweichen, sondern auch den jeweils aktuellen gesundheitlichen Zustand der am Steuer sitzenden Person überwacht. Auch KIs, die auf kurzfristige statistische Vorhersagen programmiert sind, kann man am Wert ihrer Resultate messen. Andererseits müsse man, sagt Zweig, den von den Maschinen ventilierten Werturteilen und nicht überprüfbaren Ratschlägen in Krisenzeiten misstrauen.
Der österreichische Software-Entwickler Mic Hirschbrich hat im Gespräch mit profil unlängst dazu aufgefordert, die positiven Potenziale von KI, vor allem jene in den Gebieten der Medizin, der Umwelt, der Mobilität und der Industrie, „ambitioniert“ zu nutzen: „Gerade in Europa haben wir Produktivitätszuwächse dringend nötig, auch der Fachkräftemangel wird uns immer mehr zusetzen – und KI kann hier immer stärker unterstützen. In vielen Bereichen, etwa der Medizin, aber auch der Rechtsberatung, wird KI viel mehr Menschen aus sozial benachteiligten Gruppen bessere Dienstleistungen einfacher zugänglich machen.“
Nützlich und nachhaltig
Den Ruf nach möglichst restriktiven Gesetzen im Umgang mit und im Einsatz von KI sieht Hirschbrich skeptisch: Europa, meint er noch, „sollte sich nicht durch zu wenig abgestimmte Regulierungen vom produktiven Einsatz nützlicher KI abschneiden.
In der Gesundheitsversorgung, im Kampf um nachhaltigen Wohlstand und gegen den Klimawandel liegt enormes Potenzial.“ Dieses nicht im Sinne der Menschen zu nutzen, wäre „ethisch problematisch“.
Ebendort, an einer digitalen Ethik, setzt die an der Wiener WU lehrende Wirtschaftsinformatikerin Sarah Spiekermann an. Ihren Zugang nennt sie Value-based Engineering (VBE). Was man sich darunter vorstellen muss, hat sie vor wenigen Wochen in einem großen profil-Interview erklärt: „Wir nutzen KI-Systeme an den richtigen Punkten in einem komplexen Unternehmen für die richtigen Zwecke. Es geht darum, die KI in einer Organisation, zum Beispiel beim Arbeitsmarktservice, so einzubetten, dass sie wertschöpfend im sozialen und organisatorischen Sinne tätig werden kann, in Kooperation mit den Mitarbeitern. Im zweiten Schritt kann man die Modelle so trainieren, dass sie eine für den spezifischen Kontext ausbalancierte, Risiken vermeidende Sprache findet.“
Und wenn die Herausforderung, ethisch korrekt arbeitende KI-Systeme zu konstruieren, bewältigt sein wird, kann man sich an die Aufgabe machen, die Geschichte der Menschheit neu zu formulieren. Denn künstliche Intelligenz ist dazu fähig, durch Abgleich mit Millionen von Datensätzen auch Zusammenhänge zu erkennen, die bislang kein Mensch sehen konnte. In bestimmten Anwendungsgebieten ist dies bereits sichtbar: So ist nun, über statistische Mustererkennung, etwa die Dechiffrierung extrem fragiler, bislang unlesbarer griechischer und römischer Schriftrollen möglich. Uns erreichen dieser Tage seitenweise Nachrichten aus der Antike, mit denen niemand gerechnet hat: Die Papyrologin Federica Nicolardi wird im Wissenschaftsjournal „Nature“ mit dem Satz zitiert, sie erlebe gerade „einen historischen Moment“ in ihrem Forschungsfeld. Sie könne plötzlich Texte lesen, die über zwei Jahrtausende hinweg völlig unzugänglich waren. Natürlich: Computer werden seit Jahrzehnten verwendet, um archaische Texte zu analysieren und verstehen zu helfen, aber erst die neuronalen Netzwerke der KI ermöglichen eine vergleichende Tiefenforschung, die sogar Schriften offenlegt, die mit freiem Auge nicht mehr erkannt werden können. Die Wissenschaft erhält also Zugang zu Botschaften aus Welten, die Jahrtausende entfernt sind, darin stecke „die größte Entdeckung in der Menschheitsgeschichte“, was antike Texte angehe, meint der US-Informatiker Brent Seales.
Dies sei „das ganz große Versprechen und die große potenzielle positive Errungenschaft, die wir von KIs erwarten dürfen“, meint auch Sarah Spiekermann: dass die Maschinen „Zusammenhänge erkennen können, die wir nicht gesehen haben, und dass sie uns Vorschläge dazu machen können, auf die wir nicht gekommen wären“. Solchen Erkenntnissen müssten allerdings weitreichende wissenschaftliche Untersuchungen folgen, um herauszufinden, „ob es da jenseits der Korrelation auch eine Kausalität gibt. Das kann aber nur der Mensch.“ Noch, möchte man hinzufügen.