Kultur

Ruth Beckermann: "Irgendwie saftig - und grauslich"

Die Wiener Filmemacherin Ruth Beckermann umkreist in "Mutzenbacher" in gewagter Manier die Idee der Männlichkeit: Sie konfrontiert Fremde mit einem historischen pornografischen Text-und fordert Reaktionen ein.

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Unlängst meinte ein Filmkritiker, als die Rede auf Ruth Beckermanns Sex-Diskursfilm "Mutzenbacher" kam, man müsse sich angesichts der dort auftretenden Männer "für sein eigenes Geschlecht genieren". Die Filmemacherin reagierte, darauf angesprochen, mit der Feststellung, dass dies keineswegs das Ziel ihres Films gewesen sei. Trockener Nachsatz: "Es stört mich aber auch nicht."

Der lakonische Humor der Regisseurin Ruth Beckermann ist eine Grundlage ihrer Arbeit. Die ernsten Themen, die sie in Angriff nimmt, spielt sie gern über die Bande der Ironie: In ihrer Filmcollage "Waldheims Walzer" (2018) dokumentierte sie aus historischer Distanz das unrühmliche Tänzeln eines Bundespräsidentschaftskandidaten um die schlecht kaschierten Trümmer seiner NS-Vergangenheit. In "Die Geträumten" (2016) machte sie den melancholischen Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan zum Ausgangspunkt einer improvisierten weltanschaulichen Debatte unter den beiden jungen Vortragenden (Anja Plaschg, Laurence Rupp). Eine Konfrontation mit historischem Archivmaterial wagte Beckermann auch in "Jenseits des Krieges" (1996),indem sie in den Räumen einer Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht die heftigen Reaktionen derer aufzeichnete, die diese Schau besuchten. Das Verdrängte der Geschichte sucht nach Druckausgleich.

ohne Höhenangst: Ruth Beckermann beim profil-Fototermin im Wiener Hotel Bristol

"Mutzenbacher" vollzieht erneut eine Reise in die Vergangenheit, in die Verbotszonen des Obszönen: Der pornografische Wiener Roman "Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt", 1906 im Privatdruck erschienen, erreichte die Öffentlichkeit anonym, als Flaschenpost, zu der sich kein Autor und kein Verlag bekannte. Bis 1968 war das Buch verboten, erst seit 2017 findet es sich nicht mehr auf dem deutschen Index jugendgefährdender Schriften. Es kreist um Inzest, Blasphemie, vor allem aber um sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige unter dem Deckmantel von frühkindlicher Lust und konsensualer gegenseitiger Befriedigung. Der Film dazu zeigt drei Dutzend Männer aller Alters-und Gesellschaftsschichten, die-einem Casting-Aufruf folgend-nacheinander auf einem plüschigen altrosa Sofa, das als Besetzungsund Therapiecouch gedacht werden kann, Platz nehmen und sich der Herausforderung stellen, aus dem Roman vorzulesen, Szenen nachzuspielen und mit der Zeremonienmeisterin über Sex zu debattieren, die mit sanfter Autorität aus dem Off agiert. Bei den Filmfestspielen in Berlin gewann "Mutzenbacher" im vergangenen Februar einen der Hauptpreise.

Ruth Beckermann kannte den Roman bereits als Jugendliche, seit den 1960er-Jahren. Er fand sich, wie in vielen Wiener Haushalten jener Tage, auch bei ihr daheim. Anstößig fand sie ihn damals nicht, wie sie im profil-Gespräch erklärt: "Als Kind findet man so etwas nur faszinierend. Man sucht ja nach Informationen zu allem, was mit Sex zu tun hat und einem die Eltern nicht erzählen. Damals musste man das eben-und ich war ein sehr neugieriges Kind-in irgendwelchen Druckwerken finden, heute findet man es im Internet."2020 kam sie auf das Buch zurück. Die Pandemie hatte ihr gerade einen Strich durch zwei andere Filmprojekte gemacht. "In diese seltsam körperlose Zeit, in diese Ausnahmesituation stieß die 'Mutzenbacher', die für mich auch zu einer Maßnahme gegen Fadesse und Frustration wurde."

Es ist die Wunschvorstellung eines Mannes, dass Frauen dauernd Sex wollen und alle drei Minuten kommen.

Ruth Beckermann

über den Roman "Josefine Mutzenbacher"

Die streng reduzierte Form eines Kammerspiels, die "Mutzenbacher" schließlich annehmen würde, ergab sich erst schrittweise. Sie habe "zunächst einen mehrteiligen Film angedacht",erzählt Beckermann: "Ich wollte all die Menschen zu Wort kommen lassen, die mit dem Thema zu tun haben, Historiker, Prostituierte, Germanisten, auch eine feministische Pornoproduzentin." Nach einem Teil, in dem diverse Männer ihre Ideen zu diesem Text preisgeben, sollte es noch eine performative Passage mit choreografierten Szenen geben. Das war im Herbst 2020. Noch hatte der Film seine Struktur nicht gefunden.

Sie habe sich an etwas "herangetastet",sagt die Regisseurin. "Es war mir klar, dass ich keinen 'üblichen' Dokumentarfilm machen werde." Und dann habe sich die Form vereinfacht, wurde stimmig. Im März 2021 lancierte sie, gemeinsam mit ihrem Co-Autor Claus Philipp, einen Casting-Aufruf. Ein Film soll entstehen, hieß es darin, über den berüchtigten Roman "Josefine Mutzenbacher", der die Kindheitsmemoiren einer Wiener Prostituierten detailliert: "Gesucht werden männliche Mitwirkende zwischen 16 und 99 Jahren. Dreherfahrung nicht vorausgesetzt." Rund 150 Männer meldeten sich, etwa die Hälfte wurde in das Liesinger Kulturzentrum K23, den einzigen Schauplatz des Films, eingeladen. Sie habe übrigens "ganz bewusst nicht mit einer Casterin gearbeitet, sondern einen Aufruf gemacht, um das Experiment einer Zufallsauswahl zu wagen", sagt Ruth Beckermann. "Hätte sich beispielsweise kein Schwuler, kein Schwarzer und kein Israeli gemeldet, gäbe es sie alle auch in meinem Film nicht. Ich wählte ganz bewusst nicht bestimmte Typen aus."Ein paar wenige bekannte Gesichter mischen sich unter die antretenden Männer, Ex-Filmmuseumsdirektor Alexander Horwath etwa, Claus Philipp und der Schriftsteller Robert Schindel, der als erster und letzter Vorleser dem Film einen berührenden Rahmen gibt.

Ruth Beckermann umkreist in "Mutzenbacher" in gewagter Manier die Idee der Männlichkeit: Sie konfrontiert Fremde mit einem historischen pornografischen Text-und fordert Reaktionen ein.

Die Casting-Gespräche sollten am Ende den gesamten Film ergeben; während der Dreharbeiten war dies allerdings noch keineswegs klar. Aber die starke Form dieses minimalistischen Settings setzte sich durch. "Das Publikum kann sich auf andere Dinge konzentrieren, wenn nicht zu viel gleichzeitig passiert",sagt Beckermann. "Ich finde ohnehin, dass viel zu viele Bilder produziert werden. Durch Gesichter, Mimik und Text entstehen auch Bilder, aber vor allem im Kopf."Genau dies sei eben auch "das Tolle an einem Pornobuch: Die sehr expliziten Bilder entstehen im Kopf."

Eine Frau blickt interessiert-amüsiert auf eine Reihe zufällig antretender Männer, dreht die traditionellen Machtverhältnisse (und den im Kino dominanten Blick) um. Männer werden mit einer Männerfantasie behelligt, mit der Bitte um Reaktion darauf.

Aber existiert das alte Prinzip des "Männlichen" noch? Kann man es in einer Zeit aufweichender Geschlechtergrenzen festschreiben? "Die Mehrheit der Menschen sind schon immer noch Männer und Frauen",stellt Beckermann leicht trotzig fest. "Auch wenn heute bereits Kinder ihr Geschlecht wechseln können. Seit der feministischen Welle der 1970er-Jahre haben wir so viel über Frauen gehört, in Filmen, Büchern, Theaterstücken: über Frauen als Geliebte, als Täterinnen, als Opfer der Verhältnisse. Aber wir leben auch mit Männern, warum sollte ich mir diese nicht einmal genauer anschauen?"

Clemens Ruthner, Melanie Strasser, Matthias Schmidt (Hrsg.):

Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt.

Wiener Ausgabe. Sonderzahl. 424 S., EUR 34,-

Die gegenwärtige Gender-Politik beäugt Beckermann skeptisch. "Es wird immer gefährlich, wenn Politik sich ins Intimste einmischt. Das haben wir bei den Nazis erlebt und auch in der chinesischen Ein-Kind-Politik. Wo man Gesetze hat, die etwa Abtreibung verbieten, wird es gefährlich für die Demokratie. Die gegenwärtige Identitätspolitik kommt aber von links: Sprachregelungen und Cancelling; das meiste spielt sich tatsächlich auf der Ebene des Sprachlichen ab. Und die 'linken' Vertreter dieser Politik verstehen nicht, dass sie bei einem großen neoliberalen Ablenkungsmanöver mitspielen. Die schlecht verdienende alleinerziehende Mutter oder Künstlerin interessiert heute kaum jemanden."

Als Beckermann mit ihrem Schnittmeister Dieter Pichler an der Montage des Films arbeitete, rechnete sie nicht mit dem Interesse einer breiteren Öffentlichkeit. "Wir dachten, diesen Film würde kaum jemand zeigen, weil er quer zum Zeitgeist steht." Auf über 80 Festivaleinladungen kommt er bislang, wird von China bis Peru und sogar am New York Film Festival gezeigt. "Frauen lieben diesen Film, das merke ich bei den Diskussionen nach den Vorführungen. Manche Männer fühlen sich dagegen beschämt oder angegriffen." Es sei selbstredend kein Zufall, dass sie diesen Film "gerade jetzt" gemacht habe, "da über Sex vor allem negativ geredet wird: von Missbrauch und Pädophilie bis zu #MeToo." Sie ortet in Sachen Sex einen hohen (sozial)medialen Pessimismus.

 

Ab 3. November wird "Mutzenbacher" in österreichischen Kinos zu sehen sein.-Zwei begleitende Gesprächsveranstaltungen im Votivkino, jeweils ab 19.30 Uhr: Am 4.11. wird Ruth Beckermann nach dem Film mit Matti Bunzl, dem Direktor des Wien Museums, sowie Clemens Ruthner, einem der Herausgeber der neuen "Mutzenbacher"-Edition, diskutieren. Am 8.11. spricht profil-Redakteurin Angelika Hager mit Beckermann und der Philosophin Isolde Charim über aktuelle Männerbilder.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.