Ulrich Seidls „Rimini“: Es hagelte im Vorfeld viel Kritik an der Beharrlichkeit des Festival-Leitungsduos.

Seidls „Rimini“: Die Lieder der Verlorenen

Ulrich Seidls neue Studie formvollendeter Tristesse, das Schlager-Trauerspiel „Rimini“, belebt die Filmfestspiele in Berlin.

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Ein Geisterfestival findet derzeit in Berlin statt. Die Partys und Empfänge, auch die Versammlungszonen für die Schaulustigen wurden ersatzlos gestrichen und gesperrt, die Säle sind auch während der Vorführung lang erwarteter Weltpremieren oft gähnend leer. Und über den Potsdamer Platz, die Gegend um den Berlinale-Palast, in dem sich bis 2020 alljährlich im Februar die internationale Filmbranche gedrängt hatte, streichen gegenwärtig nur wenige Menschengrüppchen und ein paar Zufallspassanten. Neu hier sind die überall verteilten Teststationen, -container und -busse, die man als Festivalbesucher täglich aufzusuchen hat, um den Vorführungen überhaupt beiwohnen zu können.

Nicht einmal die Hälfte der üblichen Akkreditiertenzahlen verbucht man heuer hier, viele sagten offenbar sehr kurzfristig ab, um keine Infektion (und Quarantäne) an einem Ort zu riskieren, an dem die Menschen, auch wenn es weniger als sonst sein würden, zwangsläufig zusammenkommen müssten. Schon deshalb hagelte es im Vorfeld in den deutschen Feuilletons viel Kritik an der Beharrlichkeit des Festivalchef-Duos Carlo Chatrian und Marietta Rissenbeek, nach dem unbefriedigenden Online-Festival 2021 heuer auf physische Präsenz zu setzen. Musste das sein, eine Berlinale im Zeichen von Omikron abzuhalten? War es nötig, in Krisenzeiten Filme, die man auch allein zu Hause sichten könnte, exklusiv im Kino anzubieten? 

Das Dilemma ist weniger leicht zu beantworten, als es scheint, denn dem Risiko, das man hier nachweislich eingeht, steht der Umstand entgegen, dass Filmfestspiele ohne das „analoge“ und kollektive Ereignis Kino diesen Namen nicht verdienen. Die Gefahrenabwägung ist legitim; denn  Kultur sollte in der Prioritätenliste nicht ganz unten stehen – und wenn der Rest des öffentlichen Lebens geöffnet bleibt, weil die aktuelle Erkrankungsgefahr zu keiner Überlastung des Gesundheitssystems mehr führt, dann ist auch vertretbar, ein Filmfestival unter strengen Sicherheitsbedingungen ablaufen zu lassen.

Die Glückserlebnisse, die Veranstaltungen wie diese unter anderen Voraussetzungen vermitteln können, stellen sich im verregneten Berlin aber vorläufig nur zaghaft ein. Immerhin führte Ursula Meiers Tragikomödie „Die Linie“ auf überraschenden Wegen in die Zerwürfnisse einer überspannten Familie von Musikerinnen. 
Der Eröffnungsfilm der diesjährigen Berlinale dagegen, François Ozons „Peter von Kant“, erfüllte die Erwartungen, die dieses hochkonzeptuelle Projekt weckte, nicht: Man versprach eine dem Titel gemäß „maskuline“ Variation über Rainer Werner Fassbinders rein weiblich besetztes Melodram „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“, das vor 50 Jahren im Rahmen der Berlinale uraufgeführt wurde; geliefert wurde ein streng theatrales Kammerspiel, das sich an seinen zweifellos liebevoll installierten Kostümen und Requisiten weidet, aber schon bald zu einer angestrengt manieristischen Etüde abflacht; inmitten des dialoglastigen Reigens gibt der französische Schauspieler Denis Ménochet als einsamer Fassbinder-Wiedergänger sein Bestes, begleitet von seinem ergeben leidenden Diener Karl (Stefan Crepon schlägt aus dieser stummen Rolle allein durch Blicke und Gesten komödiantische Funken).

Als dem drogenabhängigen Titelhelden eine alte Freundin (mit artifiziellem Glamour: Isabelle Adjani) den jungen Amir (Khalil Ben Gharbia) vorstellt, entwickelt sich eine unweigerlich ins Unglück führende Romanze. Am Ende bleibt von diesem Film nicht viel mehr als ein Gefühl der edlen Leere, einer cinephilen Pflichtübung zurück. Auch der finale Auftritt der legendären Hanna Schygulla, die in Fassbinders Original brillierte, ist bloß eine Verbeugung vor der Filmgeschichte, an filmischem Mehrwert mobilisiert sie wenig.

Da hatte der zweite Beitrag im Wettbewerb um den Goldenen Bären, der bereits am Mittwoch dieser Woche verliehen werden wird, deutlich mehr Gewicht. Vor genau neun Jahren hatte der Wiener Filmemacher Ulrich Seidl der Öffentlichkeit zuletzt einen Spielfilm zugemutet. Mit dem Finale seiner „Paradies“-Trilogie, dem er den (für ihn unüblichen) Titel „Hoffnung“ beigefügt hatte, trat Seidl 2013 im Wettbewerb der Berlinale an. In den Jahren danach veröffentlichte er zwei weitere dokumentarische Arbeiten, „Im Keller“ (2014) und „Safari“ (2016), die beide in Venedig vorgestellt wurden. Seither: Schweigen. 

Es war bekannt, dass Seidl an einem Projekt arbeitete, dem er den Arbeitstitel „Böse Spiele“ gegeben hatte, an einer Erzählung über zwei ungleiche Brüder, gespielt von Michael Thomas und Georg Friedrich, die beide  von ihrer je eigenen Vergangenheit eingeholt werden. Mit einer Überraschung kam Seidl vergangene Woche in Berlin an: mit der Ankündigung eines Doppelfilms. Nicht „Böse Spiele“ hat er mitgebracht, sondern eine Arbeit namens „Rimini“, und es ist vorläufig nur die eine Hälfte der geplanten Geschichte, die Story des von Michael Thomas verkörperten älteren Bruders. Der zweite Film, der „Sparta“ heißen wird, soll  noch 2022 einen Festivalstart erleben.

Ulrich Seidl ist ein Regisseur, der seine Werke langsam, fast schon bedächtig entwickelt, viel Material dreht und sammelt, um es anschließend in einer meist jahrelang dauernden Schnittphase ineinanderzufügen. Seine Filme sehen dementsprechend aus; sie zeigen die Dinge, von denen sie erzählen, in großer Präzision und langen Einstellungen, sie haben das Tempo ihrer Herstellung angenommen, bieten sich dazu an, eingehend studiert, gleichsam von allen Seiten betrachtet zu werden. Schon das macht sie so speziell; im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale ist „Rimini“ – soweit man das nach den ersten Spieltagen, mit Blick auf die noch kommenden Filme sagen kann – jedenfalls ein Unikum. 

Die Erzählung kreist um einen alternden Schlagersänger, der in tristen Hotels und Altersheimen an der winterlichen Adria aus den Überresten seiner Karriere noch ein wenig Profit zu schlagen versucht. Nach den Konzerten prostituiert er sich in den Hotelzimmern seiner betagten weiblichen Fans. Irgendwann taucht eine junge Frau (Tessa Göttlicher) auf, die mit einigem Nachdruck Geld von ihm fordert, das er nicht hat. Sie stellt sich als die Tochter vor, die er früh im Stich gelassen hat.
Mit dem deutschen Schauspieler Hans-Michael Rehberg aber, von seinen Krankheiten bereits gezeichnet, beginnt und endet der Film. Es ist dieser Schauspieler, der dem Film Tiefe verleiht. Rehberg starb 79-jährig im November 2017, das in „Rimini“ gezeigte Material wurde in den Monaten davor noch gedreht, es war seine letzte Rolle; sie zeigt einen Künstler, der nichts mehr zu verlieren hat, der auch die Depression über seinen eigenen Abschied noch mit einzubringen scheint. 

Die Vaterfigur, die Rehberg spielt, ist anrührend und abstoßend zugleich: ein weitgehend hilfloser, dementer Mann, der noch von der nationalsozialistischen Vergangenheit träumt. In dem Altersheim, das er bewohnt, stößt er mit seinem Rollator anfangs überall gegen verschlossene Türen, am Ende wird er – singend, weinend, klagend – von den Erinnerungen an ein Gestern übermannt, das nie wiederkehren wird.

In Ulrich Seidls Kino gibt es wenige Szenen, die dem Versuch, die Katastrophe der Einsamkeit und des nahenden Todes in schlüssige Bilder und Töne zu fassen, näher kommen als dieses Finale.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.