Ukrainische Dirigentin Lyniv: „Wir spielen in keiner Blase des Schönen“

Die Kunst entbindet nicht von der Politik: Man darf nicht wegschauen, während Menschen getötet werden. Ein Gespräch mit Oksana Lyniv.

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Interview: Manuel Brug

profil: Wann waren Sie zuletzt in der Ukraine?
Lyniv: Im November, zu meiner Hochzeit. Auch wenn da die Stimmung bereits getrübt war, fällt es mir schwer, die Bilder dieser glücklichen Tage mit dem Heute zu vereinen.

profil: Wie geht es Ihrer Familie in Lemberg?
Lyniv: Alle sind wohlauf, aber in den Krieg involviert. An der Schule, wo mein Vater als Chordirektor arbeitet, versuchen sie jetzt, Tarnnetze zu weben. Außerdem singt er viel mit Kindern online, auch patriotische Lieder, um sie abzulenken und gegen psychische Traumata zu arbeiten. Mein Bruder ist Kranführer und manövriert augenblicklich Bahngleise, die zu Panzersperren verschweißt werden. Meine Mutter kocht für die Soldaten, so weit das noch geht. Meine Kollegen vom Lemberger Mozart-Festival sind im Opernhaus, in dem Flüchtlinge betreut werden, und machen Kulturprogramme mit den Kindern. Gerade wurde eine Kiewer Mutter mit neugeborenen Drillingen, deren Mutter auf Facebook angekündigt hatte, sie einfach in den Zug nach Lemberg zu setzen, von ihnen abgeholt und versorgt. Das ist nur einer von vielen Vorfällen.

Oksana Lyniv, geboren 1978 in Brody, woher auch Joseph Roth kam, ist eine der bekanntesten Künstlerinnen der Ukraine. Sie studierte in Lemberg und Dresden, assistierte bei den Bamberger Symphonikern und Kirill Petrenko an der Bayerischen Staatsoper. Ab 2017 war sie drei Jahre lang Chefdirigentin der Grazer Oper. 2017 etablierte sie das Kulturfestival „LvivMozArt“ in Lemberg und gründete das Ukrainische Jugendsymphonieorchester. 2021 dirigierte sie als erste Frau bei den Bayreuther Festspielen die Neuproduktion „Der fliegende Holländer“. Seit 2022 leitet sie als erste Generalmusikdirektorin in Italien das Teatro Communale di Bologna.

profil: Können Sie sich denn augenblicklich noch auf die Musik konzentrieren?
Lyniv: Es kostet Mühe, aber ich habe es gelernt. Für mich sind das Dirigieren und die Demokratie Facetten des Menschseins. Ich kann mich auf die Ukraine und auf die Musik konzentrieren. Ich bereite gerade „Turandot“ an der Oper in Rom vor, es wird das Bühnen-Regiedebüt des Künstlers Ai Weiwei werden; gleichzeitig versuche ich meinen Verwandten in Lemberg zu helfen, für mein Land einzustehen. Die müssen sich jetzt mit Waffengewalt verteidigen; ich habe stattdessen den Taktstock und meine Fahne als Schärpe.

profil: Sie haben gerade erst als Chefdirigentin in Bologna angefangen. Würden Sie statt in der Emilia Romagna lieber näher an Ihrer Heimat sein wollen? 
Lyniv: Auch Bologna ist für mich ein Zuhause. Hier gibt es ein fantastisches Musikmuseum, das auf den Sammlungen des Padre Martini beruht, der im 18. Jahrhundert der gesuchteste Kompositionslehrer Europas war, auch Mozart hat bei ihm gelernt. Und der ukrainische Komponist Maxim Beresowski. Ich fühle mich nicht weit weg.
 
profil: Die aus Russland stammende Sängerin Anna Netrebko und andere meinen, die Musik von ihren politischen Bekenntnissen trennen zu können – sie verlieren jetzt ihre Engagements. Wie stehen Sie dazu?
Lyniv: Politik ist von der Kunst nicht zu trennen. Wir spielen in keiner Blase des Schönen, wir stehen mitten im Leben. Denn nur dann entsteht auch gute, also wahrhaftige Kunst. Natürlich kann Anna Netrebko sagen, sie möchte nur Künstlerin sein. Aber sie hat als Mensch nicht das Recht, einfach wegzuschauen, während Russland die Ukraine zerbombt und Menschen tötet. Erst die Kunst macht uns zu Menschen, aber als Künstlerin hat man auch eine moralische Verantwortung.

profil: Wird es in den nächsten Monaten für osteuropäische Kunstschaffende schwierig werden, in Europa engagiert zu werden?
Lyniv: Wir haben zwei schwere Pandemie-Jahre hinter uns, die insbesondere weniger Arrivierte haben verzweifeln lassen. Aber es wird schon logistisch für viele unmöglich werden, zu gastieren. Aus der Ukraine kann keiner weg, die Flughäfen, Gleise und Straßen werden gerade zerstört, die Männer müssen kämpfen. Und Russland ist von den Flugwegen abgeschnitten. Das ganze russische Repertoire wird weltweit mit hervorragend ausgebildeten osteuropäischen Künstlern besetzt. Auch ich habe im Frühjahr in Bologna Tschaikowskis „Jolanthe“ mit Ukrainern geplant, ich glaube kaum, dass das stattfinden kann. Und alle wollen nun aus Solidarität mein Ukrainisches Jugendorchester einladen, doch auch diese Leute kommen nicht raus, sie sitzen in den Luftschutzkellern!

profil: Hätten Sie gedacht, dass es so weit kommen würde?
Lyniv: Wir Menschen aus der Ukraine sind Realisten. Ich hatte es befürchtet. Denn uns war klar, dass der Westen Putin unterschätzt. Und es hat mir schon düstere Gedanken bereitet, als ich nahe des Wiener Konzerthauses ein Palais gesehen habe, das gerade als Österreich-Sitz des Ölkonzerns Lukoil luxussaniert wird. Ich weiß eben auch, dass hinter den schillernden Fassaden des Oligarchen-Russland viele getötete oder zumindest mundtot gemachte Künstler liegen, die Auslöschung von Identitäten. Ich habe es selbst noch zu Sowjetzeiten erlebt, wie Mozarts Sohn Franz Xaver, der 30 Jahre lang das Lemberger Musikleben mitaufgebaut hat, von den Russen negiert wurde – und wie unsere Komponisten nicht gespielt wurden. Ich befürchte, dass Russland nun wieder versuchen wird, unsere nationale Identität zu zerstören, indem man unsere kulturellen Relikte vernichtet oder nach Moskau schafft, um die Geschichte umzuschreiben.