Szenenbild aus "The Painted Bird"

Venedig 2019: Guter Jahrgang, schwierige Preisverleihung

Lido-Tagebuch (III): Das 76. Filmfestival in Venedig neigt sich seinem Ende zu – mit ein paar handverlesenen Meisterstücken, viel Mittelmaß und mit einem unterirdischen „Aufregerfilm“.

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In wenig mehr als 48 Stunden werden am Lido die diesjährigen Filmpreise, darunter der Goldene Löwe verliehen. An wen, das ist zur Stunde nicht seriös zu prognostizieren, auch wenn das Feld der Favoriten sich auf eine Handvoll Filme eingegrenzt zu haben scheint: An Pietro Marcellos politisch und ästhetisch komplexer Jack-London-Verfilmung „Martin Eden“ wird man kaum vorbeikommen, auch das historische Epos, das der Exil-Pole Roman Polański aus der Dreyfus-Affäre gemacht hat (“J'accuse - An Officer and a Spy”), mutet preiswürdig an; der Schwede Roy Andersson hat mit „Über die Unendlichkeit” zwar erneut nur jene überlange Melancholie-Groteske fortgeschrieben, an dem er seit den späten 1960er-Jahren arbeitet, aber das Ergebnis ist in seiner Renitenz, seinem Humanismus und seiner Lakonie betörend. Und drei der vier amerikanischen Filme im diesjährigen Wettbewerb – Noah Baumbachs Netflix-Trennungstragikomödie „Marriage Story“, James Grays All-Meditation „Ad Astra“ und Todd Phillips’ Comics-Reißer „Joker“ – erstaunten und erfreuten auch Hollywood-Defätisten.

Der Jahrgang war somit kein schlechter, und auch die Besucherzahlen gingen heuer steil aufwärts. Einen Film allerdings hätte sich Festivaldirektor Alberto Barbera dringend ersparen müssen. Denn ließe sich Kritik am Faschismus allein durch erregte Wiedergabe von Handlungen üben, in denen Frauen, Kinder und Tiere gefoltert, missbraucht und getötet werden, die Welt wäre sehr einfach. Alles Anstößige müsste in der Kunst immer schon auch als ernste Kritik daran wahrgenommen werden. Nun merkt man „The Painted Bird“, einem Film, der – offenbar in sehnsüchtiger Hoffnung auf einen Eklat – in den Wettbewerb der Filmfestspiele gesetzt wurde, deutlich an, dass er gerne wie Pasolinis „Salò“ wäre, dabei aber nichts anzubieten hat als Geistlosigkeit und Nihilismus.

Ein jüdischer Bub durchlebt mitten im tobenden Zweiten Weltkrieg, unter dumpfen Dörflern und niederträchtigen Nazis, eine Odyssee, ein traumatisierendes Stationendrama der Verstümmelungen und Ermordungen. Der tschechische Regisseur Václav Marhoul setzt die Exzesse seiner Inszenierung als billige Pointen, als Jahrmarktsattraktionen: Sein Film ist, trotz kleiner Auftritte schlecht synchronisierter Stars wie Harvey Keitel (als desparater Priester), Udo Kier (als sadistischer Müller) und Stellan Skarsgård (als “guter” Nazi), eine Gewaltstudie für Menschen, die über das Wesen der Gewalt nichts erfahren, sich von ihr nur kitzeln lassen wollen. Die Natur betreibt brutale Auslese, tötet Außenseiter, der Mensch ist des Menschen Wolf: Das symbolisch überfrachtete Bild des an seinen Flügeln bemalten Vogels, der von einem Schwarm wegen seines Andersseins ausgestoßen und zerfleischt wird, gibt diesem Werk, entstanden nach einem 1965 erschienenen Roman Jerzy Kosińskis, seinen Namen.

Marhoul bedient alle Klischees des „Kunstfilms“ und gnadenlos auch sämtliche Ressentiments der Autorenfilmskeptiker. Man könnte „The Painted Bird“ dazu benutzen, die Trivialität des „pessimistischen“, aber „künstlerisch wertvollen“ Films vorzuführen. Nur: So ist das Gegenwartskino nicht. Die in Schwarzweißbildern stilisierte, „zeitlose“ Erzählung ist reinste Oberfläche: hier eine Prise Béla Tarr, dort eine ferne Erinnerung an die Bilder Andrei Tarkowskis. „The Painted Bird“ bleibt bei aller Dauerbrutalität seltsam wirkungslos. Es ist, als fehlte diesem Film sogar zur Unmenschlichkeit schlicht die Substanz.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.