46-217901957

Lieben und lieben lassen

Mit ihrem zweiten Soloalbum wagt die französische Musikerin Jehnny Beth den radikalsten Auftritt ihrer Karriere.

Drucken

Schriftgröße

Wer sich auf eine ausreichende Zahl an Standbeinen stützen kann, verliert nicht so schnell den Boden unter den Füßen. Insofern muss sich Jehnny Beth, als Camille Berthomier in Frankreich groß geworden, keine Sorgen machen: Sie spielte in oscar-prämierten Filmen („Anatomie eines Falls“) und Netflix-Serien („Hostage“) mit, schrieb erotische Short Stories, moderierte Shows im Radio und TV. Vor allem aber macht sie: Musik.

Just in ihrer Kernkompetenz geriet Beth 2020 ins Straucheln: Als sie im Sommer jener Premierenseuchensaison ihr Solodebüt „To Love Is to Live“ veröffentlichte (nach Auflösung ihrer Post-Punk-Band Savages), gab es keine Möglichkeit, Gigs zu geben – und somit auch keine, ihre unvergleichliche Bühnenpräsenz in die Welt zu tragen. Die Folge: Das ambitionierte Avant-Pop-Werk ging im pandemischen Alltag unter.

Zwar folgte mit der im Jahr darauf entstandenen Duett-LP „Utopian Ashes“ mit Primal-Scream-Kopf Bobby Gillespie eine Art Befreiungsschlag, dennoch blieb lange unklar, wohin der weitere musikalische Weg führen würde. Die Antwort liegt nun in Form von „You Heartbreaker, You“ vor, Beths zweitem Album-Alleingang, einer fokussierten Tour de Force. Statt sich an Konzessionen in Richtung Bekömmlichkeit und Breitenwirksamkeit zu beteiligen, begibt sich die 40-Jährige auf einen Marsch durch das Wüste, munter mittendrein in die harschen Klanggebirge des Industrial Rock, wo die Schürfwunden ihrer Raufaserseele in den Lyrics schonungslos offengelegt werden: „Wir leben in einer dunklen Zeit voller Drama und Tragödien. Entweder wir lernen sehr laut zu schreien oder sehr leise zu flüstern.“

Gleich zu Beginn zieht Beth beide Register: Zwischen brodelndem Keuchen und heftigem Kreischen lässt sie in „Broken Rib“ die Knochen knacken. Nicht minder intensiv geht es in den acht weiteren Kompositionen zu: Es scheppert und dröhnt, über peitschenden Drums wettern wütende Gitarren hinweg, sobald die Künstlerin den vermeintlich letzten Ausweg via wahrer Herzensverbindung heraufbeschwört. „No Good For People“ channelt den kaputten Glam der Nine Inch Nails; „High Resolution Sadness“ nähert sich wiederum gefährlich nah dem Härtegrad Abrissbirne; der Rausschmeißer „I See Your Pain“ erörtert schließlich Fragen der Empathie.

Gewiss, all das muss erst einmal verdaut werden. „You Heartbreaker, You“ ist in jeder Hinsicht ein starkes Stück. Nicht nur eines, das kathartisch kracht, sondern das auch eine klare künstlerische Positionierung anzeigt. Musik ist ein (Schwermetall-)Standbein für Jehnny Beth.