Internationale Filmfestspiele von Cannes 2022

Zwischen Zombie-Slapstick und Selenskyj-Pathos

Das 75. Filmfest in Cannes wurde mit politischen Gewissensfragen und literweise Kunstblut eröffnet.

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Einfach nur „Z“ hätte die Komödie heißen sollen, die dazu auserwählt worden war, die diesjährigen Filmfestspiele in Cannes zu eröffnen. Das „Z“ sollte scherzhaft für Kino am untersten Ende der Qualitäts- und Budget-Skala stehen, für Werke, die ein paar Etagen tiefer als die billigsten B-Pictures produziert werden. Dann kam der Krieg über Europa, und der davor unschuldige Buchstabe verwandelte sich über Nacht in ein militärisches Aggressionssymbol, in eine propagandistische Markierung der russischen Truppen. Also musste man dem Film einen neuen Titel verpassen; man fand, weil er vom Regieführen und vom Kunstblutvergießen handelt, den doppeldeutigen Begriff „Coupez!“ („Schnitt!“).

Aber ehe noch klar wurde, ob und wie dieser Film auf die gegenwärtige Verfasstheit der Welt, auf den Epochenbruch reagieren würde, schaltete man, als Überraschung des Abends, den ukrainischen Staatschef per Video zu. Es war nicht der erste Auftritt, den Wolodymyr Selenskyj im Rahmen globaler Entertainment-Veranstaltungen absolvierte, schon bei den Grammy Awards Anfang April war er via Live-Schaltung dabei. Er appellierte, mit Verweis auf Charlie Chaplins legendäre Hitler-Entlarvung „Der große Diktator“ (1940), nach der Musikbranche nun an die Filmindustrie: „Wird das Kino schweigen oder darüber reden? Wenn es einen Diktator gibt, wenn es einen Freiheitskrieg gibt, hängt alles von unserem Zusammenhalt ab.“ Und: „Wir brauchen einen neuen Chaplin, der beweist, dass das Kino heutzutage nicht schweigt." Jeden Tag gingen in der Ukraine Hunderte von Menschen zugrunde: „Sie werden nach dem Schlussapplaus nicht wieder aufstehen.“ Und Selenskyj schloss mit einem Schimmer der Hoffnung, an den zu glauben schwerfiel: „Verzweifeln Sie nicht, der Hass wird irgendwann verschwinden, und Diktatoren werden sterben."

Selenskyjs überdimensionale Präsenz überschattete die Eröffnungsgala in Cannes naturgemäß. Denn sie war nicht nur ein Zeichen der Solidarität, sondern auch eines der Hilflosigkeit: Als genügte es schon, dem Präsidenten einer seit fast drei Monaten brutal attackierten Nation ein Forum und Standing Ovations zu bieten, um das schlechte Gewissen zu lindern, das man haben mag, wenn man in diesen Tagen, dem Krieg zum Trotz, an einem Luxusfestival wie den Filmfestspielen in Cannes teilnimmt. Natürlich gibt sich auch dieses den Anstrich politischen Engagements: Der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa ist ebenso mit einem Film vertreten wie der russische Dissident Kirill Serebrennikow, der inzwischen in Berlin lebt. Zudem wird die letzte Arbeit des litauischen Dokumentaristen Mantas Kvedaravicius gezeigt, der am 2. April bei Dreharbeiten in der ukrainischen Stadt Mariupol im Zuge eines russischen Angriffs 46-jährig erschossen wurde.

Nach Selenskyj war also das Kino am Wort, und es hatte der Dringlichkeit der Botschaften aus der Ukraine nichts von Bedeutung entgegenzusetzen. Denn „Coupez!“, das von dem Franzosen Michel Hazanavicius („The Artist“) inszenierte Remake eines japanischen Meta-Schockers von 2017, Shinichiro Uedas „One Cut of the Dead“, bot eine zwar heitere, sehr turbulente, mit Romain Duris, Bérénice Bejo, Finnegan Oldfield und vielen anderen auch glänzend besetzte Melange aus Zombie-Slapstick und Amateur-Trash, aber sie passte als gänzlich entpolitisierte Film-im-Film-im-Film-Komödie, als kunstblutiges Zerstreuungsangebot an eine pandemisch erschöpfte Gesellschaft nicht in die unmittelbare Gegenwart. Bei aller Sehnsucht nach amüsanteren Zeiten: Man hätte eine andere Produktion als diese finden müssen, um das bedeutendste Filmfestival der Welt zu eröffnen.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.