Agnes Chorherr ist stellvertretende Leiterin der Walz Wiener Lernzentrum (walz.at), einer privaten Oberstufe mit Öffentlichkeitsrecht in Wien.

Meinung vor Wissen – eine gefährliche Mischung

Alle haben eine Meinung. Über alles. Sofort. Dabei sollte sie das Ende, nicht der Anfang sein. Gastkommentar von Agnes Chorherr.

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Ob Klimakrise, Migration oder Wirtschaftspolitik – Jugendliche (und seien wir ehrlich: auch viele Erwachsene) reagieren impulsiv. Die erste Reaktion ist emotional: „Das crazy!“ Die Informationsquelle sind meist Social Media. Jugendliche beziehen den Großteil ihres Wissens aus TikTok, YouTube und Instagram und nicht über redaktionelle Medien. Social Media ist angetreten als demokratischer Möglichkeitsraum mit einem breit gefächerten Meinungsspektrum, mit unendlichen Partizipationsmöglichkeiten. Die Realität sieht anders aus: Zuerst gibt es die Meinung eines Influencers beziehungsweise einer Influencerin, die Info kommt – wenn überhaupt – als Nebenprodukt, verpackt in Emotionen, daher. Algorithmen servieren Jugendlichen exakt das, was zu ihren bestehenden Ansichten passt. So verfestigen sich Positionen.

Meinungen sind kein Problem, problematisch ist, wenn sie vor dem Wissen kommen. Die Welt ist überflutet von Informationsschnipseln, sodass man ohne Vorwissen, Recherche und Diskurs nicht entscheiden kann, was verzerrt oder schlichtweg absoluter Unsinn ist. Für eine Demokratie brandgefährlich!

Was bedeutet das für die Schule? Schule sollte der Ort sein, an dem junge Menschen lernen, wie man denkt, nicht was man denkt. Die Schwierigkeit liegt nicht am Mangel an Information, sondern an der oft fehlenden Fähigkeit, diese einzuordnen. Wenn wir mündige Bürgerinnen und Bürger eine Demokratie wollen, müssen wir Jugendlichen Räume geben, in denen sie sich ausprobieren dürfen.

Wir versuchen an der Walz genau das: Freiräume zu schaffen, in denen unterschiedliche Meinungen existieren dürfen, in denen man sich untereinander oder auch mit den Unterrichtenden (ab)reiben darf.

Pubertät ist Konfliktzeit. Auf den vielen Reisen im Klassenverband prallen Haltungen aufeinander (und ohne Handy muss geredet werden). Unsere Mentorinnen und Mentoren moderieren Konflikte, aber induzieren sie auch, indem sie konträre Meinungen diskutieren lassen. Jede Woche endet mit einer Reflexion, in der eigene Verhaltensweisen hinterfragt und auch unangenehme Fragen gestellt werden. Schriftlich oder im Gespräch, immer in einem geschützten Rahmen, abseits der Bewertung des permanenten Publikums der digitalen Welt.

Wer als Jugendlicher nicht lernt, Konflikte auszuhalten, lernt es später selten. Das können wir heute auf der großen Bühne beobachten.

Wir stellen Jugendliche vor Dilemmata – da gibt es kein eindeutiges Richtig oder Falsch. Sie lernen, Strategien zu prüfen, Widersprüche auszuhalten und Sprache präzise einzusetzen. Wer seine Meinung ändert, ist kein „Opfer“, sondern jemand, der gelernt hat, mit Veränderungen und Ambivalenzen umzugehen. Plakativ: In einem politischen Diskurs sollte man sich nicht verhalten wie ein Fußballfan, der sich einmal entscheidet und für den Rest seines Lebens seinem Verein bedingungslos treu bleibt.

Politische Bildung lehrt unsere Jugendlichen, wie unterschiedliche Systeme funktionieren, dass Kompromisse kein notwendiges Übel, sondern die Grundlage unseres Zusammenlebens sind. Für Podiumsdiskussionen mit Vertreterinnen und Vertretern aller politischen Lager bereiten wir unsere Jugendlichen darauf vor, inhaltliche Fragen zu stellen. Manch Populistin und Populist hat sich schon entlarvt, als auf Problemstellungen keine Strategien oder Gegenentwürfe präsentiert werden konnten, sondern in plumpe Gegenangriffe verfallen wurde.

Wir konfrontieren Jugendliche mit anderen Lebenswirklichkeiten: Sie arbeiten auf Bauernhöfen, machen Praktika in handwerklichen Betrieben wie Kfz-Werkstätten oder Konditoreien, bewähren sich im Ausland in Gastfamilien, leisten ihren Beitrag in sozialen Einrichtungen. Wer im Theater verschiedene Rollen verkörpert, erfasst innerlich, dass es andere Perspektiven als die eigene gibt. (Eine Fluchtgeschichte dramaturgisch aufzuarbeiten und zu verkörpern, ist etwas anderes, als darüber zu reden. Die Distanz verringert sich.)

Wir erleben täglich, wie schnell Diskussionen kippen und Emotionen statt Argumente die Oberhand gewinnen. Wer als Jugendlicher nicht lernt, Konflikte auszuhalten, lernt es später selten. Das können wir heute auf der großen Bühne beobachten: Erwachsene, die sich öffentlich gegenseitig provozieren, als wären sie mitten in der Pubertät, statt ihre Positionen mit Argumenten zu hinterlegen.

Wenn wir wollen, dass junge Menschen mündige Bürgerinnen und Bürger werden, muss das Bildungssystem ihnen (und den Lehrkräften) die Zeit und die Reflexionsräume geben, die das Erlangen und Einordnen von Wissen überhaupt erst möglich machen. Meinung darf nicht der Ausgangspunkt sein, Meinung muss das Ergebnis eines Denkprozesses sein.

Agnes Chorherr

ist stellvertretende Leiterin der Walz Wiener Lernzentrum (walz.at), einer privaten Oberstufe mit Öffentlichkeitsrecht in Wien.