Leitartikel

Alwin Schönberger zur Impfpflicht: Mehr Schaden als Nutzen

Eine Impfpflicht kann kontraproduktiv sein: Sie verstärkt die Skepsis, hebt nicht unbedingt die Impfquote – und verhilft notorischen Verweigerern des Immunschutzes zu unverdienter Aufmerksamkeit.

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An Meinungen zum Sinn einer Impfpflicht herrschte zuletzt kein Mangel. Eine Form von Debattengrundlage fehlte jedoch: Evidenz. Bei einer gewichtigen gesundheitspolitischen Maßnahme sollte aber geprüft werden, ob solide Belege für deren Nutzen vorliegen, ob sie dazu taugt, das anvisierte Ziel zu erreichen. Stellen wir daher die Frage: Wie steht es um Evidenz für eine Impfpflicht? Können wir auf Basis von Fakten davon ausgehen, dass nach der Einführung einer solchen die Impfquote steigt?

Die Antwort lautet: nicht unbedingt. Manche Untersuchungen gehen sogar davon aus, dass der gegenteilige Effekt eintritt und noch weniger Menschen impfen gehen als davor. Im besten Fall ist die Datenlage inkonsistent, und das ist einer der Gründe, warum ich nie für Impfpflichten war – weder im Hinblick auf das Coronavirus noch bei anderen Infektionskrankheiten. Nicht, dass ich Hemmungen hätte, der Menschheit vorgeschriebene Impfungen zuzumuten; ich zweifle aber am Benefit.

Selbstverständlich trete ich vehement für die Covid-19-Impfung ein, weil besonders die hervorragenden mRNA-Vakzine perfekt geeignet sind, um dieser Pandemie allmählich die Zähne zu ziehen. Man kann jedoch zugleich Impfbefürworter und Gegner einer Impfpflicht sein.

Mein erstes Argument heißt „psychologische Reaktanz“. Dieser Fachbegriff besagt: Wenn ich zu etwas gezwungen werde, bin ich erst recht und justament dagegen. Eine deutsche Studie zeigte, dass bei ohnehin impfkritischen Menschen die Impfbereitschaft noch einmal um fast 40 Prozent sinkt, wenn sie mit einer Pflicht konfrontiert sind. Vergleiche von Ländern ohne und mit Impfpflicht, etwa zum Schutz vor Masern, erbrachten ebenfalls denkwürdige Ergebnisse: Wo eine Impfpflicht gilt, ist die Skepsis gegenüber Sicherheit und Wirksamkeit von Impfungen generell höher.

Zudem muss Reaktanz nicht auf eine konkrete Immunisierung beschränkt bleiben, sondern kann sich auch auf andere übertragen, nach der Devise: Wenn ihr mich zu dieser einen Impfung nötigt, verweigere ich zum Trotz ein paar andere. Ich räche mich also für eine vermeintliche Zwangsmaßnahme, indem ich dann freiwillige Prävention gegen potenziell gefährliche Infektionen boykottiere. Das Resultat wären etwa sinkende Impfraten gegen Masern, HPV oder Keuchhusten. Eine Impfpflicht kann in mehrfacher Hinsicht nach hinten losgehen und Impfprogrammen langfristig schaden.

Notorische Impfgegner können weniger Schaden anrichten, wenn eine große Mehrheit dank Impfung oder Viruskontakt geschützt ist.

Nun könnte man entgegnen: Aber wenigstens sind die Menschen vorerst gegen eine globale Seuche geschützt, ob sie es goutieren oder nicht. Ob diese Überlegung zutrifft, ist ungewiss. Zwar gibt es Indizien, dass in manchen Ländern eine verpflichtende Impfung die Impfquoten ein Stück erhöht. Wirklich überzeugend sind diese Daten aber nicht immer. Es ist empirisch unzureichend belegt, dass eine Impfpflicht ein geeignetes Instrument ist, um die Impfquote zuverlässig zu heben.

Das nächste Argument betrifft die Omikron-Variante, aber nicht in dem Sinn, dass die bisherigen Vakzine zu wenig wirksam wären. Denn schließlich zielt die Impfpflicht nicht auf Omikron ab, sondern auf SARS-CoV-2, und in wenigen Wochen wird es auf die neue Variante abgestimmte Präparate geben. Omikron hat eine andere Bedeutung: Das Medizinjournal „The Lancet“ schätzt, dass sich bis Ende März 50 Prozent der Weltbevölkerung damit infiziert haben werden. Auch deshalb wird die Pandemie wahrscheinlich im Lauf der kommenden Monate abebben und das Coronavirus zu einem ständigen, aber nicht mehr übermäßig bedrohlichen Begleiter. Bald werden sich sehr, sehr viele Menschen angesteckt haben. Eine ebenfalls sehr große Zahl wird durch Impfungen gut genug geschützt sein, um nicht schwer zu erkranken. Wir beobachten hier eine typische Entwicklung: Die Menschen gewöhnen sich an einen neuen Erreger, ihr Organismus kommt sukzessive besser damit zurecht.

Der Sinn einer Impfpflicht ist in so einer Situation fraglich. Notorische Impfverweigerer können weniger Schaden anrichten, wenn eine große Mehrheit dank Viruskontakt oder Impfung immunisiert ist. Die Verpflichtung nimmt eine schrumpfende Minderheit ins Visier, doch diesen Personen bietet sie einen Pseudoanlass, um die immer gleichen Bilder zu provozieren: Bilder von grölenden, egoistischen Rüpeln mit einem krass verzerrten Verständnis demokratischer Grundrechte. Sie sind hauptsächlich grob und laut und erwecken den irrigen Eindruck, es gehe ein Riss durch die Mitte der Gesellschaft. Tatsächlich handelt es sich um eine maßlos überschätzte Gruppe, die hartnäckig gegen die Wirklichkeit protestiert. 

Ich meine: zu viel der Ehre. Ich hielte größtmöglichen Öffentlichkeitsentzug für adäquat, doch die Aufregung um die Impfpflicht steht dem entgegen, weil sie diesen Menschen zu unverdienter Aufmerksamkeit verhilft. Stattdessen darf man ihnen, da das Medizinsystem zum Glück zunehmend weniger in Bedrängnis gerät, inzwischen durchaus die private Freiheit gestatten, sich nach Herzenslust ungeschützt mit dem Coronavirus zu infizieren, wenn ihnen der Sinn danach steht. Sie haben dann eben die Konsequenzen dieser Entscheidung zu tragen. Aber bitte leise.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft