Christian Rainer: 10 Jahre: 1 Million

Christian Rainer: 10 Jahre: 1 Million

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Zunächst einmal trennen! Beschäftigen wir uns zu Anfang mit den Zelten, mit dem akut überquellenden Land, und danach mit der Flüchtlingspolitik. Sie werfen ein: Ja, kann man das denn trennen? Muss man sogar, damit man es später sauber zusammenfügen wird. Das eine bedingt das andere, wegen der planlosen Politik gibt es die ungeplante Asylkrise. Aber es sind zwei abzugrenzende, zwei wesensfremde Tatbestände. Nicht einmal diesen Unterschied zu kommunizieren gelingt der österreichischen Politik.

Wie ihr derzeit nichts gelingt. Das Vermächtnis des ehemaligen Vizekanzlers prallt eben erst hart auf – Casino-Lizenzen aufgehoben, Hypo-Schuldennachlass ungültig –, und das Nachfolgeteam stolpert ebenso dahin – Steuerreform inhaltsleer versemmelt, in zwei Bundesländern die Wahlen vergeigt, stammelndes Unvermögen im Umgang mit den Freiheitlichen. Man stelle sich vor, es gäbe Probleme größeren Ausmaßes – ein kaputtes Kernkraftwerk, Krieg über die Landesgrenzen schwappend, freiheitlicher Bürgermeister in Wien –, und diese Politiker müssten uns schützen! Nur das Wetter haben die da oben heuer im Griff.

Abgeschweift. Die kurzfristige Agenda der Asylpolitik ist lächerlich einfach, einfach lächerlich: Es gilt, ein paar tausend Flüchtlinge, mit deren Ankunft niemand gerechnet hatte, dauerhaft unterzubringen. Nehmen wir die Zahl 2700, das ist die offizielle Überbelegung des Lagers Traiskirchen! Österreich hat 2354 Gemeinden, auf jede Gemeinde käme ein Flüchtling – schafft die Politik nicht. Österreich hat über eine Million Gästebetten, jedes 370. Bett für Flüchtlinge – schafft die Politik nicht. Österreich hat 20.000 Plätze für Präsenzdiener, zehn Mal die Überzahl von Traiskirchen – schafft die Politik nicht. In Österreich gibt es 3000 katholische Pfarrgemeinden, ein Flüchtling pro Pfarre – schafft die Politik und will die (am Tropf des Steuerzahlers hängende) Kirche nicht.

Was sich seit Monaten rund um Traiskirchen abspielt, ist politisches Multiorganversagen. Unklare Kompetenzen, föderale Strukturen, zynische Politiker, entscheidungsschwache Beamte, Parteien im Wettbewerb um Gunst und Geld. Niemand schultert die Verantwortung. Daher passiert nichts. Solcherart sind schon ganze Staaten zusammengebrochen. Hier nicht. Hier brechen allenfalls Asylanten zusammen.

Aber: Unterlassen wir es, die prekäre Situation der Flüchtlinge weiter zu dramatisieren! Es geht ihnen besser als dort, woher sie kamen, erheblich besser als während der Flucht. Eine humane Lösung wird sich finden.

Aber: Wir wollen die innenpolitische Lage dramatisieren. Allein die Bilder der Zelte bringen den Freiheitlichen Zigtausende neue Wähler. Das ist die prekäre Situation, und zwar auf Dauer: SPÖ und ÖVP sind paralysiert, von der Angst beherrscht, eine humane Geste für die Asylanten, jede Eingemeindung eines Flüchtlings würde die FPÖ stärken. Die Perpetuierung des im Grunde zeitlich begrenzten Problems, die tägliche Neuinszenierung des Dramas, die Chronifizierung des Unbewältigten stärkt die Freiheitlichen freilich erst recht. Prekär.

Davon unabhängig und damit verbunden und von den Politikern ähnlich feige vernachlässigt: die Flüchtlingspolitik. Sie fehlt. Sie ist nicht nur – wie Verantwortung abschiebend behauptet wird – eine Angelegenheit, die auf europäischer Ebene zu gestionieren wäre. Keinesfalls sind Österreich durch internationales Regelwerk die Hände gebunden. Konkret: Natürlich richtet sich die Zahl der Flüchtlinge, die in Österreich um Asyl ansuchen, nach den hier herrschenden Bedingungen. Selbstverständlich weiß jeder Flüchtling, lange bevor er seine Heimat verlässt, dass die ökonomischen Verhältnisse und die Lebensqualität in Österreich und Deutschland anders sind als in Ungarn oder in Italien, dass er in Österreich die besten Bedingungen Europas vorfindet – trotz Zelten. „Zielland Nummer eins“, so die Innenministerin.

Wenn die Umstände schlechter sind, weniger Geld, andere Quartiere, wenn die Asylverfahren länger dauern, kommen und bleiben auch weniger Flüchtlinge. „Wie viele wollen wir, was ist verträglich. 50.000? 100.000? 500.000?“, sagt ein Regierungsmitglied im privaten Gespräch: „Ich sehe das wertfrei. Aber Österreich muss sich endlich entscheiden.“ Muss wirklich „Österreich“ entscheiden? Politiker müssen entscheiden. Wenn Regierung und Landeshauptleute auch hier untätig bleiben, bleibt kein Stein auf dem anderen, dann war Traiskirchen eine Nichtigkeit.

In diesem Jahr werden rund 80.000 Asylwerber ins Land kommen. Als Flüchtlinge anerkannt: zwischen 30 und 40 Prozent. Sie haben ein Recht, ihre Familie nachzuholen, Frau und Kinder. Damit würden jährlich bis zu 100.000 Menschen ins Land kommen und bleiben, in zehn Jahren wäre das eine Million. Das ist ein Maximalszenario, aber es ist kein FPÖ-Szenario.

Aber wenn es Wahrheit würde, würde ganz Österreich ein FPÖ-Szenario.