Leitartikel: Christian Rainer

Christian Rainer Alles im Argen

Alles im Argen

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„PISA macht Freude. Nach dem Schock im Jahr 2001 können die Schulen nun die Früchte ihrer Anstrengungen ernten. In der Mathematik und den Naturwissenschaften liegen unsere Schüler nun über dem Durchschnitt, im Lesen immerhin im Mittelfeld. Besonders erfreulich: Dieser Erfolg basiert darauf, dass vor allem die Kinder der Arbeiter und der Einwanderer deutlich aufgeholt haben. In sozialer Ungerechtigkeit sind wir nun nicht mehr Spitze, sondern immerhin Mittelmaß.“

Das schreibt die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“, natürlich nicht über Österreich, vielmehr über Deutschland. Bei uns liefe der Text anders, jeder Haupt- und jeder Nebensatz müsste ins Gegenteil verkehrt werden, das „über“ zum „unter“, aus dem „Mittelfeld“ würde „letztes Eck“, aus „erfreulich“ ein „besorgniserregend“. In sozialer Ungerechtigkeit sind wir nun nicht mehr Mittelmaß, sondern Spitze. PISA in Österreich, das macht Angst vor der Gegenwart, das macht wütend auf die Gegenwart.

Die Republik Ende 2010: Zu den globalen Erschütterungen wie einem drohenden Zusammenbruch der Geldwirtschaft reiht sich eine um die andere hausgebackene Katastrophe. Die Steuern steigen, und der Staatshaushalt wird dennoch nicht einmal im Ansatz saniert. Der ORF, ein De-facto-Verwalter des elektronischen Informationsmonopols, zerfällt personell und strukturell, beschädigt dabei noch en passant den übergeordneten Wert Journalismus. Die österreichische Forschung wird an den effizientesten Stellen, den außeruniversitären Ins-tituten, mit zynisch-lakonischer Kommentierung vom Geld abgeschnitten und damit eiskalt gestellt. Die Universitäten versinken in organisatorischem Chaos, das durch ein von WU-Rektor Christoph Badelt als „absoluter Wahnsinn“ charakterisiertes Gesetz in einen jenseits des Denkmöglichen anzusiedelnden Zer-störungszustand übergeführt werden wird: Maximierung der Relation Lehrende zu Belehrten, Minimierung der solcherart erwartbaren Ausbildungs- und Wissenschaftsqualität.
Und jetzt noch der PISA-Test. Die großen Söhne sind auf der kleinen Seite der Zivilisation angekommen.

Die manifesten Verhältnisse und die auf dieser Basis erwartbaren Entwicklungen haben ihren Abdruck in der Wählergemengelage hinterlassen. Seit Wochen liegt das rechte Lager in Gestalt der Blutsbrüder FPÖ und BZÖ gleichauf mit den Sozialdemokraten an erster Stelle der Bürgergunst. In einem Land, in dem der demokratische Reflex ersetzt scheint durch kollektives Grölen als Reaktion auf Verhetzungsreize, ist es möglich, dass ein Haufen xenophober und rechtsextremer Politiklehrlinge in Reichweite der Kanzlerschaft drängt. Ja, da kann die Welt der PISA-Streber noch einiges lernen vom strammen Österreich.

Das Volk ist verantwortlich für den Erfolg solcher Politiker. Man darf den kleinen Mann, der trotzig wählt, da nicht aus der Verantwortung nehmen. Aber die politische Klasse in ihrer Gesamtheit ist umgekehrt auch verantwortlich für ein derartig desorientiertes Volk, das sich den schlimmsten unter ihnen in die Arme wirft. Budget, ORF, Forschung, Unis, Schulen, das alles und einiges mehr, diese reale Insuffizienz ist ja tatsächlich eine Ausgeburt politischer Ineffizienz.

Größengierige Landeshauptleute cornern eine Bundesregierung; die Regierungsspitze ist den Fürsten loyaler als den eigenen Ministern. Die machterprobten Interessenvertreter der Staatsdiener machen sich die gewählten Volksvertreter untertänig. Die Justiz entscheidet menschlich, also nach Lust und Laune. Der Lebensminister erledigt im Affekt eine Mitarbeiterin.

Die Macht hat sich selbstständig gemacht. Die Einflusssphären haben den Verfassungsbogen durchbrochen. Die noch Mächtigen quittieren das ungeduldige Raunzen des Volks mit raunzender Ungeduld.

Alles im Argen? Alles im Argen.

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