Christian Rainer: Im Aufwachraum der Krise

Wachsender Volkszorn und 48 Prozent für die Volkspartei. Paradoxe Interventionen erzeugen paradoxe Zustände. Was nun?

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Wer in diesen Tagen, so es erlaubt ist, durch Wien spaziert, der spürt das Frühlingserwachen. Ein wenig schüchtern noch wagen sich die Menschen auf die Straßen. Ein Rest von schlechtem Gewissen steht denen ins Gesicht geschrieben, die diese Gesichter nicht durch Masken verdecken. Überschießender Vorwurf liegt in den Augen jener, die Masken tragen, gegenüber allen, die das unterlassen. Wiewohl keine Tragepflicht besteht und obwohl die Vernunft eine Ansteckung im freien Gelände unter diesen Bedingungen als unmöglich ausschließen muss. Manche Passanten passieren im weiten Bogen, andere nähern sich in einem Akt zivilen Widerstands bis auf den zugestandenen Meter.

Im ländlichen Raum ein ähnlich fleckiges Bild: Es drängt die Menschen in die Natur. Aber fremd gekennzeichnete Fahrzeuglenker werden angepöbelt. In einem oberösterreichischen Bezirk mit 56 Gesundeten von 66 positiv Getesteten, also mit neun aktuell Erkrankten bei einem Todesfall, errichtet die Polizei regelmäßig Straßensperren. Die Polizisten haben aber keine rechtliche Handhabe gegen die Angehaltenen. Und Hallstatt ruft sehnsüchtig nach den Chinesen, die eben noch als Seuche gebrandmarkt worden waren.

Der Corona-Geist funktioniert jetzt überall ähnlich. Oder er funktioniert eben nicht und sucht ersatzweise Halt in den Widersprüchen. Die Volkspartei liegt in der profil-Umfrage bei 48 Prozent. Zugleich werden kritische profil-Texte Hunderttausende Male abgerufen, auch von weit außerhalb aller Echokammern der Journalisten und Intellektuellen.

Österreich liegt im Aufwachraum der Krise. Die Kurven kurven nicht mehr, sie ziehen steil nach unten. Zu Ende der vergangenen Woche waren noch 2500 Menschen an Covid-19 erkrankt. Das entspricht nicht einmal 0,3 Promille der Bevölkerung, also weniger als einem von 3000 Bürgern. Kalibriert an der jüngst erhobenen Dunkelziffer kommen wir auf einen von 1300. Was exponentiell nach oben ging, fällt nun wie ein Stein nach unten.Die schlimmste Krise seit 1945 muss mit der medizinischen Feinwaage gemessen werden.

Wenn die Regierung nicht schnell genug ist, droht sie ein Opfer ihres Erfolges zu werden.

Was wie ein Widerspruch wirkt, ist keiner. Corona ist ein Paradoxon. Die Annahmen und die Ergebnisse sind nicht in Einklang zu bringen. Mit der geübten Sichtweise entspricht nichts mehr dem Erwarteten. Wir mussten uns auf den schlimmsten Fall einstellen, damit der schlimmste Fall nicht eintritt. Weil der schlimmste Fall nicht eingetreten ist, haben wir uns ohne Not auf den schlimmsten Fall eingestellt. Die Bevölkerung musste in Panik versetzt werden, damit keine Zustände eintreten, die Panik hervorrufen. Weil keine Zustände eingetreten sind, die Panik hervorrufen, war die Panikmache nicht gerechtfertigt. Damit die Zahl der Corona-Patienten nicht exponentiell steigt, musste das Land in den Shutdown. Eine sehr kleine Zahl von Österreichern erkrankte an Covid-19, daher erscheint der Shutdown exponentiell übersteigert. Nietzsche: Das Bewusstsein vom Scheine.

Wie holt man das Land aus einem Zustand, der mit paradoxer Intervention herbeigeführt wurde? Wie erholt sich ein Land von seinen Wach- und Alpträumen? Jetzt genügt es nicht mehr, im Emotionsspektrum der Menschen zu operieren. Das Reservoir von Angst und blindem Vertrauen ist aufgebraucht. Vom Konto der Regierung, von den 48 Prozent Zustimmung der Volkspartei und den 16 Prozent der Grünen, wird schnell einmal abgebucht. Die Phase der Öffnung werde schwieriger werden als der Shutdown, hatte der Gesundheitsminister schon früh vorausgesehen. Er meinte damit das langsame Lockern der Fesseln nach Maßgabe der Entwicklungen. Vielleicht hatte Rudi Anschober die psychologische Indikation da noch gar nicht mitgedacht.

Schule, Geschäfte, Gastronomie, einige Grenzen. Es geht jetzt alles schneller, als zu erwarten war. Das mag dem Zwang der Wirtschaft geschuldet sein, die das Stammpublikum der Volkspartei ausmacht. Die Unternehmer werden Sebastian Kurz den Wirtschaftskollaps ohnehin nicht verzeihen, sobald der Gesundheitskollaps vergessen ist. Und wir erleben noch ein Paradoxon: Wenn die Regierung nicht schnell genug ist, droht sie ein Opfer ihres Erfolges zu werden. Wenn Corona zur Nebensache wird, wird der Freiheitsentzug zur Freiheitsberaubung.

[email protected] Twitter: @chr_rai

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