Christian Rainer: Journalismus in Zeiten von Corona

Wir stehen vor unserer größten Aufgabe seit 1945: Über das Finden und Befinden in dieser Redaktion und in anderen.

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Seit fünf Jahrzehnten ist Montag der Tag der großen profil-Redaktionssitzung. Dort werden die Inhalte des nächsten Heftes festgelegt, ein Raster für die Online-Themen wird skizziert und ein mittelfristiger Plan ausgerollt.

Vor allem aber wird entlang und abseits dieser Markierungspunkte diskutiert. Kontroversen bauen sich auf. Manchmal sind die Auseinandersetzungen emotional. Aber immer werden sie kanalisiert, und sie kanalisieren sich nach den vielen Jahren der gemeinsamen Diskurserfahrung auch von selbst. Die Gespräche münden direkt in unsere Berichterstattung. Sie bilden auch die Basis für die individuelle Verortung eines jeden und damit wiederum für unsere Arbeit.

Bei allem Bewusstsein über ein gerüttelt Maß an Verklärung: Allein diese Montagskonferenz und der dabei wieder und wieder entstehende fruchtbare Boden sind es wert, die Frage nach dem Sinn unserer Arbeit immer von Neuem mit Ja zu beantworten. Weil diese journalistische Arbeit so tief wie bei wenigen anderen Berufen in unserem Gesamtsein wurzelt und wächst, ergibt sich damit stets auch ein weiter reichender Lebensentwurf.

Sehr viele Journalisten kennen Ähnliches wie eine profil-Montagskonferenz, sei es virtuell, sei es ganz konkret. Jeder von uns fokussiert auf Orientierungspunkte, die Kraft und Richtung geben. Das können Gespräche mit Kollegen sein, der Austausch mit Lesern und Usern oder Hörern und Sehern. Das kann auch das verlegerische Konstrukt selbst sein, das wir publizieren. Zeitung, Magazin, Website, Sendung. Buchstabe, Bild, Ton, Video.

Dieses Gesamtpaket von Gedankenwelt jedes Einzelnen und den daraus entstehenden Massenprodukten vereint einen guten Teil der geografisch verstreuten Journalisten in einem einheitlichen Universum.

Niemals zuvor in der österreichischen Nachkriegsgeschichte mussten wir uns Herausforderungen stellen wie jetzt in der Corona-Krise. Vorweg: Diesen Satz zu globalisieren, wäre ein Fehler, wäre eine Übertreibung, die uns unglaubwürdig machte. Kriegsberichterstattung etwa findet immer unter schwierigeren Bedingungen statt und hat gelegentlich größere Konsequenzen. Der Vietnamkrieg kam durch Fernsehbilder und investigative Recherche zu einem schnelleren Ende; die zeitnahe Dokumentation der Jugoslawien-Gräuel hatte unmittelbare Folgen und wirkt abschreckend bis in die Gegenwart.

Für Österreich und das Gros der westeuropäischen Medien gilt aber: eine Herausforderung wie nie zuvor.

Die Diskussion über eine zeitgerechte Eindämmung der Zwangsmaßnahmen ist ebenso wichtig wie die Eindämmung der Pandemie selbst.

Diese Herausforderung besteht einerseits im Erfassen, Sichten und Einordnen von Fakten. Das erweist sich als ein überaus schwieriges Unterfangen. Es mangelt an historischen Ereignissen, die uns als Blaupause für den Umgang mit dieser Pandemie dienen könnten. Es fehlen tragfähige wissenschaftliche Erkenntnisse über Virus, Erkrankung, Ausbreitung. Auch die Tatsache, dass wir uns einem Bundeskanzler gegenübersehen, der in den vergangenen Wochen mehrfach gegen den Befund wissenschaftlicher Experten gehandelt hat und damit zumindest nach dem Dafürhalten der Bundesregierung recht behält, ist einzigartig in meinem Erfahrungshorizont: bei den Schnelltests, beim Schließen der Schulen, bei der Notwendigkeit von Grenzschließungen. Stimmt das wirklich?

Für uns Journalisten windet sich die eigene Leitlinie derzeit entlang eines Möbiusbandes: Wir müssen uns dem Ausschalten von Restrisiken verschreiben. Selbst wenn wir den Notstand nicht sehen, müssen wir die Notstandsmaßnahmen für richtig befinden. Auch wenn Wahrscheinlichkeiten und logisches Denken anderes ergeben als ein Desaster-Szenario, muss es richtig sein, gegen das Unwahrscheinliche und gegen den Fehler im Denken vorzusorgen.

Mit diesem Paradoxon arbeiten wir. Neben der Akutbewertung des Geschehens, die schnell die öffentliche Meinung verändern kann, besteht unsere Aufgabe aber schon jetzt in einer wachsamen Gewichtung all der Zwangsmaßnahmen, die in Österreich und anderswo gesetzt werden. Niemals zuvor seit 1945 wurden die Menschenrechte in ähnlichem Ausmaß und in vergleichbarer Geschwindigkeit eingeschränkt. Und erstmals im Leben der Bürger und der Journalisten handelt es sich dabei nicht um abstrakte oder fremde Rechte, sondern um unsere eigenen.

Die Diskussion über eine zeitgerechte Eindämmung der Zwangsmaßnahmen ist ebenso wichtig wie die Eindämmung der Pandemie selbst. Damit werden sich die profil-Montagskonferenz und der Diskurs aller Journalisten in den kommenden Monaten zu befassen haben.

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