Christian Rainer: Oppositionsemigration

Strolz weg, Grüne draußen, Pilz droht mit Rückkehr – und die Roten sind erratisch.

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Was mehr soll man zur Position der Opposition sagen, als in der obenstehenden Zeile zu lesen ist? Was genau passiert eigentlich gerade? Liegt’s an fehlenden Personen oder an verlorenen Inhalten?

Matthias Strolz hat vergangene Woche angekündigt, er werde sich von der Spitze der NEOS zurückziehen, auch sein Nationalratsmandat zurücklegen. Angesichts von ironischen und ernst gemeinten Analysen, die NEOS seien die einzige Opposition im österreichischen Nationalrat, ist das keine gute Nachricht. Dennoch bin ich optimistisch, was in diesem Fall auch realistisch ist: Der Abgang von Strolz ist ein Grund mehr, den NEOS Respekt zu zollen, ob man sie nun wählt oder nicht. Ich kann mich nicht erinnern, dass ein Politiker jemals mit vergleichbarer Wahrhaftigkeit, zu einem gut gewählten Zeitpunkt und aus bestens bestelltem Feld gegangen wäre. Das spricht für die Verfasstheit dieser Partei. Mit Beate Meinl-Reisinger folgt eine Person, die Politik ähnlich beherrscht wie Strolz, die als einzige Frau unter den Parteichefs und mit weniger Schrullen als er vielleicht sogar besser ankommen wird. Da mache man sich keine Sorgen.

Anders bei den Grünen. Man konnte sie wider alle eigenen Interessen wählen: wenn man es für wichtig erachtete, eine Partei im Parlament zu halten, die aus Überzeugung, ohne Korruption und abseits individueller Vorteile agierte. Das ist nun alles kaputt: Wenn die ehemalige Parteichefin quasi direkt zu einem Glücksspielkonzern wechselt, stehen auch alle anderen Mandatare unter dem Verdacht von Käuflichkeit. Und wenn das grüne Urgestein Peter Pilz mit Respektlosigkeit gegenüber der selbstgesuchten Basisdemokratie die Partei ruiniert, bloß weil er und einige andere nicht in Pension gehen wollen, dann muss man am Charakter der gesamten Bewegung zweifeln.

Womit die Liste Pilz bereits zur Hälfte beschrieben ist. Die andere Hälfte der Beschreibung besteht darin, dass Pilz wider eigene Eingeständnisse rund um den Sexismus-Verdacht genau diesen nun auf perfide Weise und unter Verdrehung der Fakten zerstreuen will, zu diesem Zweck sogar eine politische Verschwörung erfindet und damit alle von Übergriffen betroffenen Frauen – nicht nur jene, die er so oder so kannte – doppelt demütigt.

Es bleibt der Big Player, die Sozialdemokratie. Man braucht keine investigativen Fertigkeiten: Die SPÖ hat sich noch nicht gefunden. Sie irrlichtert zwischen Wundenlecken und Verschwörungstheorien, zwischen Selbstmitleid und Rundumschlägen, zwischen konstruktiver Kritik und überschießender Polemik. Das liegt simpel am Trauma des Machtverlustes, es liegt an einem Parteichef, von dem es heißt, er wolle eigentlich gar nicht weiter Politik betreiben, auch am holprigen Wechsel in der roten Trutzburg Wien, und es liegt an der Abwesenheit von Inhalten.

Man braucht keine investigativen Fertigkeiten: Die SPÖ hat sich noch nicht gefunden.

Tatsächlich sprachen wir bis hierher nur über Personen – Strolz/Meinl-Reisinger, Pilz, Christian Kern –, nicht aber über die Frage, ob der Opposition auf Basis möglicher Inhalte überhaupt eine relevante Stellung zugewiesen werden kann. Die NEOS nehmen auch hier eine Sonderposition ein: Sie stehen dafür, manches verwirklichen zu wollen, was Schwarz-Blau nur großspurig verspricht; sie stehen aber nicht für ein linkes Gegenbild zur rechten Regierung. Dieses Bild müsste die SPÖ skizzieren: Sie müsste andere Wegmarken kartografieren, eine entgegengesetzte Bewegungsrichtung beschreiben.

Scheinbar ein Leichtes: Die Regierung agiert in jeder Hinsicht als konservative Bewegung. Bei der ÖVP ist das eine Selbstverständlichkeit; aber auch die Arbeiterpartei FPÖ hat als einzige proletarische Agenda das Raucherthema okkupiert. Unter normalen Umständen bliebe der SPÖ völlig allein ein Monopol im weiten Feld „Gerechtigkeit“: Einkommensgerechtigkeit, Vermögensverteilung, Bildungschancen, Klassenmedizin, zu Ende gedacht auch der Klimawandel. Jedes dieser Subthemen könnte die Linke bespielen: Niedrige und mittlere Einkommen wachsen nicht, die Reichen werden reicher, das Schulsystem wird nicht durchlässiger, privilegierte medizinische Behandlung gegen Bezahlung ist Realität, die Folgen des Klimawandels werden nur die Begüterten ausgleichen können.

Dass die Sozialdemokratie ihr in der Theorie bestehendes Monopol auf Gerechtigkeit nicht monetarisieren kann, hat zwei Gründe: Einerseits fehlt ein glaubwürdiges linkes Gegenmodell zu jener ziemlich freien Marktwirtschaft, mit der konservative Parteien identifiziert werden. Andererseits: Das Thema Migration überlagert hier – wie beim Brexit oder der Wahl von Donald Trump – diese Gerechtigkeit. Das geschieht mit gutem Grund, wenn es um Bildung und folgerichtig um Schulklassen mit mehrheitlich sprachohnmächtigen Schülern geht. An vielen anderen Stellen wird dieser Begriff jedoch geschändet. Zum Beispiel ist es ein Missbrauch, die Transferleistungen an Kinder im Ausland unter der Chiffre Gerechtigkeit zu beschneiden.

Das auseinanderzuklauben, um sich das Wort „Gerechtigkeit“ zurückzuerobern, muss der Sozialdemokratie gelingen, wenn sie überleben will.

[email protected] Twitter: @chr_rai