Leitartikel: Christian Rainer

Christian Rainer Oslo gegen Ostafrika

Oslo gegen Ostafrika

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Hier ein Vorgeschmack auf das Suchrätsel, das Sie in unserer Geschichte über die Attentate in Norwegen finden. Von wem stammen folgende Sätze? „Wir wollen das christliche europäische Abendland erhalten. Wir wollen keine Islamisierung.“ Von wem dieser? „Demografisch stellt die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Migranten eine Bedrohung für das kulturelle und zivilisatorische Gleichgewicht im alternden Europa dar.“ Und wer hat das geschrieben? „In den nächsten Jahrzehnten werden die europäische Identität, die europäischen Traditionen, die europäische Kultur, das europäische Christentum und die europäischen Nationalstaaten zerstört. Das ist ein Langzeitprojekt, das neue Kolonialisierungswellen durch die islamische Welt beinhaltet.“

Zitat eins ist von Heinz-Christian Strache, das zweite von Thilo Sarrazin, Nummer drei von Anders Breivik.

Doch nein: Ich will hier nicht zeigen, wie massiv sich das Gedankengut des norwegischen Attentäters mit den Überlegungen islamkritischer Politiker und Publizisten in Europa überschneidet. Diesen Nachweis führt die profil-Geschichte ab Seite 52. (Und sie gibt damit auch eine Antwort auf die Argumentation des „Presse“-Kolumnisten Christian Ortner, wonach „nicht annähernd beweisbar“ sei, „rechte Parteien würden mit ihrer xenophoben und islamfeindlichen Propaganda den Boden für einschlägige Terroristen aufbereiten“.)

Vielmehr will ich anhand der Tragödie von Oslo und Utøya darauf hinweisen, wie sehr wir genau diesen Propagandisten bereits auf den Leim gegangen sind: Sie haben es innerhalb eines Jahrzehnts geschafft, das Reizwort „Ausländer“ aus dem Sprachgebrauch zu verdrängen und durch „Muslim“ zu ersetzen, sie haben die Chiffre Islam so weit etabliert, dass diese automatisch mit allem verbunden wird, was Immigranten zugeschrieben wird: also mit mangelndem Integrationswillen, Diebstahl von Arbeitsplätzen und Sozialleistungen, einem nachgerade genetischen Hang zum Verbrechen – und auch zum Terrorismus, was die Nachrichten über die Geschehnisse in Norwegen insofern pervertierte, als die Weltöffentlichkeit zunächst im Reflex von einem Attentat durch Muslime und nicht gegen Muslime ausging.
„Gegen Muslime“? Eben. Die gesamte Berichterstattung seit dem Freitag der vorvergangenen Woche dreht sich um den Islam als Feindbild des Westens und konkret von Anders Breivik. Medien und Experten weltweit fokussieren bei der Suche nach Erklärungen für den Massenmord auf exakt diesen Aspekt.

Beim ersten Hinblicken kein Wunder: Schließlich hat sich der Attentäter den Krieg gegen die Islamisierung auf die Fahnen geschrieben und sein zugehöriges Weltbild auf 1500 Seiten ausgebreitet. Doch genau in dieser naheliegenden Erklärung liegen das Problem und das Missverständnis: Breivik ist ja selbst das Produkt der Umdeutung des Ausländer- und Fremdenbegriffs; er glaubt, eine heilige Fehde gegen muslimische Immigranten führen zu müssen, wo er ¬eigentlich bloß gegen Ausländer im Inland – in seinem Inland – kämpft und folgerichtig ein multikulturelles Jugendtreffen zum Ziel wählte.

Keine der rechten und rechtsextremen Parteien Europas und kaum einer ihrer Funktionäre und Apologeten werden das so gewollt haben. Aber natürlich war es politische Taktik, auf Basis der 9/11-Attacken ein neues Feindbild zu schaffen, das greifbarer und angreifbarer war als irgendwelche nicht näher definierten Ausländer: Muslime samt ihrem zu westlichen Standards inkompatiblen Weltbild und ihren gewaltbereiten Splittergruppen. Muslime statt Pakistanis in England, Muslime statt Nordafrikaner in Frankreich, Muslime statt Bosnier in Österreich.
Von Oslo bis Wien: Es geht um Ausländer, und die heißen zehn Jahre nach 9/11 Mohammedaner.

Die Gegenprobe: In Ostafrika herrscht die schlimmste Hungersnot seit Generationen. Millionen Menschen sind vom Tod bedroht, Hunderttausende werden sterben. Was tun abgesehen vom der Seele zuträglichen Spenden?
Zum Beispiel eine Umfrage machen: Selbstverständlich würden die Norweger ebenso wenig wie die Österreicher zwischen Religionsbekenntnissen differenzieren, wenn die Frage nach Immigranten aus Afrika gestellt wird. Sobald man eine Zuwanderung nach humanitären Kriterien vorschlüge, gäbe es keine Moslems oder Christen mehr, sondern bloß ein überwältigendes „Nein“ zu „Negern“.

Im von der Hungerkatastrophe betroffenen Äthiopien sind 63 Prozent der Bürger Christen, in Kenia sogar 70 Prozent. Es wäre interessant zu wissen, wie sich die Nächstenliebe des „kulturellen Christen“ und Massenmörders Anders Breivik angesichts seiner afrikanischen Brüder und Schwestern manifestiert hätte.

Aber auch sachdienliche Hinweise von den zivilisierten Rettern des Abendlands wären wünschenswert.

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