Christian Rainer: Die Rache des Replikationsfaktors

Langsam dreht sich die Stimmung gegen die Regierung. Das ist ungerecht und am Rande auch wieder nicht.

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Nach einer profil-Umfrage würden 46 Prozent der ÖsterreicherInnen für die Volkspartei stimmen, wären am kommenden Sonntag Nationalratswahlen. SPÖ, Grüne, FPÖ liegen - in dieser Reihenfolge - mit 17, 15, 14 Prozent abgeschlagen im Nirgendwo. Könnte man über den Bundeskanzler direkt befinden, würden 45 Prozent Sebastian Kurz wählen. Rendi-Wagner, Hofer, Kogler schaffen schmale neun, neun und sieben Prozent. Angesichts dieser Zahlen: Es klingt vermessen, zu behaupten, die Stimmung drehe sich langsam gegen die Regierung, wie ich es im Untertitel dieses Textes getan habe.

Ich bin kein Idiot, und nach neun Bundeskanzlern und zwölf Vizekanzlern während meiner Zeit als Herausgeber von profil gestehe man mir auch ein gerüttelt Maß an Erfahrung zu! Daher möge man meine Gewichtung der Stimmungslage nicht als Lust an der journalistischen Zuspitzung abtun oder als Widerhall in der eigenen Echokammer. Erst recht nicht als Wunsch nach politischem Aktionismus (da ist im vergangenen Jahr mehr geschehen, als sich der abgebrühteste Chefredakteur wünschen kann). Oder gar nach einer Wende: Ich will mir nicht vorstellen, wie eine rot-grüne oder die kaum verblichene türkis-blaue Regierung mit der Corona-Krise umgegangen wäre. Und wenn ich es mir vorstelle: eine furchterregende Vision von hilfloser Inkompetenz, die zu hohen Todesraten führt (Rot-Grün), oder ideologisch unterfütterter Inkompetenz, die ebenso viele Tote gebracht hätte plus einen Shutdown der demokratischen Strukturen (Türkis-Blau). Also nein und ja: Kurz und Kogler, Nehammer und Anschober - das war schon eine sinnvolle Kombination aus nassforschem Management und Gewissenserforschung.

Dennoch: Die Stimmung dreht, der Drehimpuls wird sich verstärken, zum einen unabwendbar, zum anderen selbst verschuldet. Unabwendbar ist die wirtschaftliche Entwicklung. Daraus ergeben sich politische Folgen. Ich sprach in der vergangenen Woche mit Regierungsmitgliedern, die mir erstmals in der Corona-Krise ratlos erschienen: Wie umgehen mit der Wirtschaftskrise? Viel Geld schnell verteilen und dabei viele Fehler machen? Oder weniger verteilen und weniger Fehler machen? Mein Hinweis lautete: Da ein Dilemma per Definition nicht auflösbar ist, weil jede mögliche Entscheidung zu einem unerwünschten Resultat führt, müsse man das Problem offen ansprechen. Der Mensch ist der Wahrheit zumutbar, und mit etwas Fortune ist auch die Wahrheit dem Menschen zumutbar.

Weil Kurz sich mit viel Hybris als Retter der Nation präsentiert, werden ihn jene in der Verantwortung sehen, die nicht gerettet wurden.

Dieses Dilemma ist aus einem Paradoxon entstanden, das ich hier immer wieder angesprochen habe: Je besser die Maßnahmen der Regierung greifen, umso weniger Tote und Erkrankte wird es geben. Je weniger Tote und Erkrankte es gibt, umso weniger Verständnis gibt es dafür, dass die Maßnahmen notwendig waren. Die Rache des Replikationsfaktors. Und jetzt: Je normaler die neue Normalität ist, umso weniger normal wird die ökonomische Realität erscheinen.

Diese Realität könnte der Regierung doppelt auf den Kopf fallen. Einerseits: Unternehmer - die klassische ÖVP-Klientel, aber auch Bewohner von Bobostan - werden sich nicht an die Gefahr für Leib und Leben erinnern, sondern nur ihre Gegenwart zwischen Insolvenz und schmalen Renditen sehen. Das Hemd ist näher als die Hose. Reflexion - etwa über die fehlende Alternative zu einem Shutdown - ist nicht Sache von Zahlenmenschen. Andererseits: Hunderttausende Arbeitslose werden sich erst recht nicht mit Vergangenheitsbewältigung aufhalten, vielmehr die Regierung für ihr Schicksal schuldig sprechen.

Is it "It's the economy, stupid"? Mit einer Sozialdemokratie, die kein bisschen von ihrem historischen Geist und von ihrer noch erinnerlichen Tatkraft in sich trägt, werden sich die Arbeitslosenheere nicht der SPÖ zuwenden (die Unternehmer sowieso nicht). Aber vielleicht der FPÖ: Sie wird sich auf dem fruchtbaren Boden der Wirtschaftskrise schneller erholen, als man es vor genau einem Jahr bei der Veröffentlichung des Ibiza-Videos für möglich gehalten hätte. Corona hilft dem rechten Lager - entgegen dem, was der dröhnende Applaus für die ÖVP von 46 Prozent der ÖstereicherInnen vermuten lässt.

Schicksalshaft? Der Kanzler trägt auch mächtig selber Schuld. Gar nicht paradox: Weil Kurz sich mit viel Hybris als Retter der Nation präsentiert, werden ihn jene in der Verantwortung sehen, die nicht gerettet wurden. Jemand, der sich "hundertprozentig sicher ist, richtig zu handeln", muss geradestehen, wenn er falsch gehandelt hat. Jemand, der es "besser wusste als die Wissenschafter", wird sich erklären müssen, wenn Wissenschafter doch recht behalten haben. Hochmut kommt vor dem Coronafall.

[email protected] Twitter: @chr_rai