Leitartikel: Christian Rainer

Christian Rainer: Schicksalszustand

Schicksalszustand

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Sommerloch? Die Koalition paralysiert? Europa im Selbstfindungsmodus? Alle im Urlaub? Fragen Sie doch einmal die Menschen im Irak oder in der Ukraine oder in Syrien oder im Gaza-Streifen, ob sie diesen Sommer ähnlich träge erleben, wie er – wenige hundert, wenige tausend Kilometer entfernt, jedenfalls auf derselben Landmasse – eingebucht wird!
Ein billiger Vergleich, stimmt. Was geht’s uns an? Hier ein paar Ideen, was und warum es uns angeht. Angesichts der realen Verfasstheit der Welt besteht nämlich wenig Grund, diesem Sommer oder irgendeiner anderen Jahreszeit mit Trägheit zu begegnen. Unser Leben ist in jeder Hinsicht bedroht, befindet sich bestenfalls in instabilem Gleichgewicht, in einem gefährlichen Schwebezustand. Aber wer will das wahrhaben, wo sind die Apokalyptiker, die doch nur Realisten wären?

Um Ihnen den Tag zu verderben, die folgenden Zeilen.

Die globale politische Lage wurde bereits angesprochen. Brisant ist – jedenfalls aus der Distanz – weniger die Tatsache, dass es aktuell so viele Kriege, Unruhen, Failed States zu geben scheint. Die Wissenschaft behauptet ja sogar, dass wir, historisch betrachtet, in einer eher friedlichen Epoche leben. Grund zur Sorge macht aber erstens: Offensichtlich schafft es keine Ordnungsmacht – und als solche können abseits von lokalen Aktionen der Franzosen in Afrika ohnehin nur die USA gelten –, dauerhaft geordnete oder zumindest bessere Verhältnisse zu garantieren. Das hat allenfalls beim Zerfall Jugoslawiens geklappt, und da viel zu spät. Aber Afghanistan, der Irak, ­Libyen geraten allesamt zu Desasterstaaten. Wo nur indirekt Druck ausgeübt wurde, zum Beispiel in Ägypten, Syrien, im Sudan, in der Ukraine, geht es nicht besser. Die Völker der Welt bleiben sich selbst überlassen. Die Weltpolizei ist ­bestenfalls Weltfeuerwehr, und sie hinterlässt Glutnester.

Zweitens: Mit Russland und ­China sind zwei den USA und der EU ebenbürtige Spieler herangewachsen, die nach anderen Regeln spielen. Beide sind kapitalistisch orientiert und rohstoffreich, daher nicht von der ökonomischen Ohnmacht der jeweiligen Vorgängersysteme bedroht. Aber mit ihrer umspannenden wirtschaftlichen Macht werden nicht gleichzeitig Demokratie und Menschenrechte vorangetrieben, sondern absolutistische Willkürsysteme.

So weit die außenpolitische Lage. Aber auch bei einem Blick auf den Zustand der Weltwirtschaft kann man sich nur wundern, dass niemand aufschreit, dass die entsprechende Nachrichtenlage beherrscht ist von banalen Schlagzeilen wie „Inflation sinkt weiter“, „Arbeitslosigkeit weiter niedrig“ oder „Weiterhin kein nachhaltiges Wachstum“. In Wahrheit stehen wir kurz nach einer eben noch rundum als „Schlimmste Finanzkrise aller Zeiten“ eingestuften ­Situation; wir stehen mitten in einem brutalen Handelskrieg mit Russland (das zufällig über unsere Energiereserven verfügt); und wir stehen vor einem Wettbewerb mit asiatischen Arbeitnehmern und Produzenten, der nicht zu gewinnen ist (jedenfalls nicht auf dem gegenwärtigen Wohlstandsniveau).

Viel Spaß mit der ökonomischen Realitätsverweigerung!

Schließlich ist noch eine Bemerkung zu innenpolitischen Themen angebracht. Die FPÖ liegt vor SPÖ und ÖVP an erster Stelle – bei allen Umfragen, mit deutlichem ­Abstand und länger als je zuvor in der Geschichte der ­Republik. Eine Krawallpartei mit Hang zu radikalem Nationalismus und nationaler Radikalität würde, wählte Österreich heute, mit der Regierungsbildung beauftragt. Wer behauptet, es fände sich kein Koalitionspartner, ist ein gefährlicher Narr – oder wäre selbst in der nächsten Regierung vertreten.

Also auch auf lokaler Ebene: der schlimmste Befund seit 1945.

Und keiner schaut hin. Bedrückend: Auch keiner thematisiert, beschreibt, analysiert die Abgründe. Niemand warnt. Richtig ist: Für all dieses Ungemach gibt es keine offensichtlichen Lösungen. Die Probleme sind groß, sehr komplex; es gibt zu viele gegenläufige Interessen. Aber wenn niemand die Wahrheit sehen will, dann wird sie sich jedenfalls schicksalshaft erfüllen.

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