Die Toleranz Österreichs gegenüber Conchita Wurst kennt derzeit keine Grenzen

Sven Gächter: Bartgenossen

Bartgenossen

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Es blieb, wie so oft im Zeitalter der digitalen Shit- und Wirbelstürme, einem Klarnamenlosen vorbehalten, das Unbehagen der schweigenden Minderheit zu artikulieren. „Diese streng verordnete Toleranz ist einfach nur zum Speiben“, war am 13. Mai unter dem Nickname hemadoau auf orf.at zu lesen. Ob es sich dabei um ­einen Mann oder eine Frau handelte, blieb leider offen. Dass es sich vermutlich um keine Frau mit Bart handelte, konnte jedoch unschwer aus der trotzigen Wortmeldung abgeleitet werden. Seit dem Triumph von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest stehen Frauen mit Bart in Österreich und weiten Teilen Resteuropas sozusagen unter Denkmalschutz, was wiederum einige Vor- und Ewiggestrige – vorzugsweise wohl Männer (mit oder ohne Bart) – leicht bis nachhaltig irritieren dürfte. Ihnen verlieh Ewald Stadler mit dem ihm ­eigenen fundamentalistischen Ingrimm eine Stimme: „Ich geniere mich für diesen Erfolg, ich hätte mir einen anderen Kulturerfolg für Österreich gewünscht.“ Die Kunstfigur Conchita Wurst stehe für „die Demaskierung der Identitätskrise Europas“.

Jüngsten Umfragen zufolge trifft der Politkauz damit keineswegs den Nerv der breiten Bevölkerung. Demnach sind nur noch 29 Prozent explizit nicht stolz darauf, dass Conchita Österreicherin ist – vor dem Song Contest waren es noch 49 Prozent gewesen (die restlichen 51 Prozent hatten wahrscheinlich noch nie von dem Pop-Fabelwesen gehört). Was man daraus lernen kann? Erstens: Mehrheitsmeinungen sind volatil. Zweitens: Erfolg wirkt meinungsbildend, und zwar, drittens, vor allem dann, wenn der Erfolg sich dafür eignet, von einer Mehrheit vereinnahmt zu werden.

Die patriotische Ekstase nach dem Sieg von Conchita Wurst beim Song Contest ist ein ebenso beglückendes wie trügerisches Beispiel für die normative Kraft des Faktischen. Im Nachhinein wollen nun alle immer schon felsenfest überzeugt und haltlos begeistert gewesen sein. Österreich lässt sich umso dankbarer als Eldorado der Liberalität und Toleranz feiern, als man früher kaum bis gar nicht mit diesen Attributen eines aufgeklärten Pluralismus assoziiert wurde. Einen repräsentativen Aufschluss dar­über, wie es um die gesellschaftspolitische Offenheit im Lande tatsächlich bestellt ist, hätte wohl eher ein sang- und klangloser Absturz des Phönix beim Eurovisionswett­singen geliefert. Die revanchistische Häme der Stadlers, Poiers und Straches hätte keine Grenzen gekannt, und die Boulevardblätter wären mit vereinten Kräften Sturm gelaufen gegen die dekadente Abgehobenheit der ORF-Führung, das ­Ansehen Österreichs vor Millionen TV-Zuschauern in ­aller Welt so leichtfertig zu verjuxen.

Aus dem glorreichen Durchmarsch von Conchita Wurst zu schließen, die unselige Herrschaft der Ressentiments gegen „anders“ Denkende, Fühlende, Sehnende und ­Lebende sei endgültig überwunden, ist verlockend, aber mit Sicherheit verfrüht. Die Ressentiments sind keineswegs ausgerottet, sie haben es im Moment nur schwerer, sich ungebremst Bahn zu brechen. Darin darf man durchaus einen zivilisatorischen Fortschritt erkennen, der übrigens auch nicht von jenen routinemäßigen Defätisten kleingeredet werden kann, die den Hype um Conchita für ein Hochamt der kollektiven Geschmacksverwirrung und politisch korrekten Verlogenheit halten. Wenn eine Gesellschaft angesichts eines außergewöhnlichen ­Ereignisses übereinkommt, politische Korrektheit mit überbordender Freude zu verbinden, ist sie nicht verlogen, sondern im besten Sinne außer sich – nicht nur begeisterungs-, ­sondern hoffentlich wohl auch lernfähig.

Ihre wahre Lernfähigkeit wird sich erweisen, sobald die alles verklärende Conchita-Euphorie einmal abgeklungen ist und die durchschnittliche ­Toleranzbereitschaft sich diesseits von etablierten Paradiesvogelveranstaltungen wie Song Contest oder Life Ball der einzig aussagekräftigen Probe stellen muss: dem ganz alltäglichen Praxistest. Österreich ist am 10. Mai 2014 in Bewegung geraten und damit aber noch lange nicht am Ende des Weges angekommen. Wenn die Politik sich endlich zur Gleichstellung aller Lebensformen durchringt; wenn es lesbische Ministerinnen und schwule Bürgermeister und, warum nicht, Transgender-Vorstandsvorsitzende in börsennotierten Unternehmen gibt und niemanden, der sich darüber wundert, mokiert oder aufregt; wenn die sexuelle Orientierung als ungefähr so spektakulär gilt wie die persönliche Haarfarbe oder Blutgruppe; wenn keiner mehr fragt, ob Conchita auch ohne Bart gewonnen hätte, dann und erst dann ist das Ende dieses Weges erreicht – wenn das alles ganz normal und vollkommen einerlei ist. Wurst halt.

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Sven   Gächter

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