Leitartikel

Das allerletzte Urteil

Die Demokratie in den USA kann nur durch eine Instanz gerettet werden. Und es ist nicht die Justiz.

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Vergessen Sie bitte für einen Moment alles, was Sie bisher über die Anklage gegen Donald Trump erfahren haben, und dann lesen Sie das:

Die meisten Medien und vor allem die Justiz vertuschen einen Fall von krimineller Korruption, in den nicht Donald Trump verwickelt ist, sondern Hunter Biden, der Sohn von US-Präsident Joe Biden, und auch der Präsident selbst. Anstatt diese Machenschaften zu verfolgen, konstruiert die von Bidens Administration gesteuerte Justiz eine Anklage nach der anderen gegen Donald Trump, um dessen Wahlerfolg am 5. November 2024 zu sabotieren. Die Staatsanwaltschaften haben die Untersuchungen absichtlich hinausgezögert,damit die Gerichtsverfahren in der heißen Phase des Wahlkampfs im kommenden Jahr stattfinden.

Nur besonders hellsichtige Kommentatoren haben das durchschaut. Jesse Waters, Star einer Politik-Show des TV-Senders Fox News, kommentierte die jüngste Anklage gegen Trump mit dem Satz: „Das ist alles Politik und sehr gut koordiniert.“ Die Tageszeitung „New York Post“ ergänzt das Bild einer Polit-Justiz: Sonderermittler Jack Smith habe „einen der demagogischsten Auftritte aller Zeiten“ abgeliefert. Er plane, im kommenden Jahr die Wählerschaft bis zur Wahl „mit Bildern vom Kapitol-Sturm zu überfluten“, um „das Strafverfahren in eine lange Biden-Werbekampagne zu verwandeln“.

Irre, nicht?

Was Sie eben gelesen haben, ist eine Darstellung der Strafverfahren gegen Donald Trump, wie sie ein großer Teil der US-Bevölkerung präsentiert bekommt – und bereitwillig für bare Münze nimmt. In Österreich bekommt man diese – höflich formuliert – alternative Version kaum mit, weil sie mit der Wahrheit wenig zu tun hat. Doch ihre politische Bedeutung ist enorm.

„Der Mann, der bestreiten darf, was alle anderen wissen“ – ein origineller Claim für einen Präsidentschaftskandidaten.

Zunächst, um der Korrektheit willen, eine kurze Richtigstellung: Natürlich ging die US-Justiz den Vorwürfen im Fall Hunter Biden nach, konkret damit befasst war der Bundesstaatsanwalt von Delaware, David Weiss, der übrigens von Trump (während dessen Amtszeit als Präsident) ernannt worden war. Die Ermittlungen förderten jedoch lediglich mindere Delikte zutage: Steuervergehen, eine falsche Angabe beim Waffenkauf. Der unleugbare Interessenskonflikt von Hunter Bidens Engagement in der Ukraine ist kein strafrechtliches Delikt. Politisch ist er dennoch folgenschwer, aber dazu später.

Wesentlich ist, dass Trump und seine Helfershelfer das Faktum vernebeln, dass Trump als US-Präsident auf mutmaßlich kriminelle Weise versucht hat, den wichtigsten demokratischen Prozess der Republik – die Anerkennung der Wahl und die daraus resultierende Machtübergabe – zu vereiteln.

Nehmen wir an, dass das Gericht zum Schluss kommt, dass Trump mit all seinen Versuchen, das Wahlergebnis zu manipulieren, nichts Kriminelles getan hat. Dann stünde ein Mann zur Wahl, der vor Gericht das Recht erkämpft hat, gegen alle Tatsachen das wichtigste Wahlergebnis der Republik leugnen zu dürfen. „Der Mann, der bestreiten darf, was alle anderen wissen“ – ein origineller Claim für einen Präsidentschaftskandidaten.

Worüber 2024 tatsächlich abgestimmt wird, muss jedem Anhänger der Demokratie kalte Schauer über den Rücken jagen: für oder gegen die Anerkennung der unabhängigen Justiz; für oder gegen die Unantastbarkeit beglaubigter Wahlergebnisse; für oder gegen die ungehinderte Machtübergabe an den rechtmäßigen Sieger.

Trump strebt einen Sieg über die Justiz an. Nicht, indem er einen Freispruch erringt (das wäre ein ganz gewöhnlicher Vorgang), sondern indem er seine Wahl zu einem Triumph über die Justiz stilisiert. Gelingt ihm das, dann wird die Bedeutung des US-Präsidenten, formerly known as „der Anführer der freien Welt“, eine andere sein.

Wer kann der Demokratie zum Sieg verhelfen? Die Justiz kann es nicht, egal ob die Urteile in den Trump-Verfahren vor oder nach der Wahl ergehen. Es ist nicht ihre Aufgabe, Kandidaten zu behindern oder zu unterstützen, und selbst ein verurteilter Donald Trump könnte zur Wahl antreten.

Die Republikanische Partei? Ihre Senatsabgeordneten hatten es im Februar 2021 in der Hand, Trump im (zweiten) Impeachment-Verfahren schuldig zu sprechen. Sie haben versagt. Und die Vorwahlkandidaten der Republikanischen Partei kriegen auch jetzt keine eindeutige Verurteilung und Klarstellung über die Lippen.

Die Demokratische Partei? Indem sie Joe Biden als Kandidaten für die Wiederwahl nominiert, geht sie ein großes Risiko ein. Biden ist ein guter Präsident, doch erstens ist er aufgrund der Korruptionsaffäre seines Sohnes belastet, und zweitens mangelt es ihm aufgrund seines Alters zusehends an Aggressivität, um der Wucht der Manipulation einen Bulldozer der Wahrheit entgegenzustellen. Zudem ist die Nation nur den Herzschlag eines 80-Jährigen davon entfernt, dass Trump de facto ohne Gegenkandidaten in die Wahl geht.

Es bleibt am Ende nur das Volk. Wird sich die Mehrheit in der Wahl zwischen Demokratie und Machtmissbrauch, zwischen Rechtsstaatlichkeit und Missachtung der Justiz auf die richtige Seite stellen?

Das wird der allerletzte Urteilsspruch sein.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur