Eva Linsinger
Leitartikel

Eva Linsinger: Schluss mit Überschriften-Politik

Türkis-Grün bekommt mit dem Comeback-Plan eine zweite Chance. Höchste Zeit für das Beste aus beiden Welten, diesmal aber wirklich – und ohne heiße Luft.

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Die Regierung hat ein neues Lieblingswort: Turbo. Ohne „Turbo“ geht derzeit nichts. Versprochen wurden der „Impfturbo“, der „Turbo für die Wirtschaft“, der „Breitband-internet-Turbo“, der „Arbeitsplatz-Turbo“ und, damit wirklich alle die Botschaft mitbekommen, auch der „Comeback-Turbo“. Alles Turbo! Vorbei die quälend lange Zeit des Lockdowns, vergessen die Zores mit Korruptionsermittlungen, überwunden das Hickhack in der Koalition – hier kommen Turbo-Kanzler und Turbo-Regierung!
 

KISS, „keep it short and simple“, so lautet eine Grundregel der Polit-Kommunikation. Niemand beherrscht sie so perfekt wie Kanzler Sebastian Kurz. Er wiederholt einige wenige Schlüsselwörter so ausgiebig, bis sie garantiert jeder kennt. Deshalb taucht „Turbo“ bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit auf. Das Kalkül dahinter: Die Corona-Verdrossenheit steigt, das Vertrauen in die Regierung sinkt – die Koalition braucht dringend einen Neustart.

Aus Marketing- und Kommunikationsperspektive machen Kanzler und Regierung alles richtig – das Problem ist bloß: Politik besteht aus mehr als Marketing und Kommunikation, auch die beste Werbekampagne kann Schwächen eines Produkts nicht ewig übertünchen. An gut klingenden Überschriften und vollmundigen Versprechungen mangelte es auch in den vergangenen Wochen nicht, im Gegenteil. Oft blieb es aber  beim Versprechen, gehalten wurde reichlich wenig. Darin wurzelt der wachsende Unmut über das Pandemie-Management der Koalition: Immer mehr Menschen haben hohle Überschriften und Marketingmätzchen satt, sie wollen Resultate sehen. Schluss mit der Überschriften-Politik!

Beispiele gefällig? Ende März verkündete Kanzler Kurz im Brustton der Überzeugung, „wahrscheinlich schon nächste Woche“ werde Österreich den Impfstoff Sputnik bestellen. Die „nächste Woche“ kam, Sputnik nicht. Aus der „für Ostern“ zugesagten Öffnung der Schanigärten wurde nichts, von der pompös angekündigten „Impfstoffproduktion mit Israel“ hörte man schon länger nichts mehr, vom Husarenritt zum geheimnisvollen „Impfstoffbasar“ kehrte Österreich trotz Getöse mit keiner zusätzlichen Impfstoffdosis zurück, die avisierten „letzten Meter“ der Pandemie dauern bereits viele Kilometer, schon im vorigen August wurde das „Comeback der Wirtschaft“ beschworen.  Viel heiße Luft, verflixt wenig Ergebnisse. Wer so großspurig Erwartungen schürt und so  wenig liefert, erntet Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverlust.

Dennoch scheint die Lernkurve der Regierung erstaunlich flach: Auch der aufwendig inszenierte „Comeback-Plan“ zur Bewältigung der Wirtschaftskrise zeigte Kanzler und Vizekanzler in schmucken Schönbildern vor einem Palais und die Regierung bei einer Klausur, besteht aber bisher vor allem aus wohltönenden Überschriften. Manche davon sind uralte Bekannte, etwa der Koralmtunnel, manche standen schon im Regierungsprogramm, etwa der Breitbandinternetausbau, manche blieben vage, etwa die Steuerentlastungen, manche sind in der Tat üppig, etwa die Milliarden für Investitionen. In Summe: Das verdient die hochtrabende Bezeichnung „Turbo“ (noch?) nicht, daran ändern auch Wiederholungen im Turbotakt nichts.

Dabei hat die Koalition recht: Es wäre in der Tat höchste Zeit für einen Neustart. Die erste Phase von Türkis-Grün verlief, gelinde ausgedrückt, durchwachsen. Gewiss, keine einzige Regierung in Europa überstand die Last der Pandemie ohne Blessuren – mit so viel Aversion wie ÖVP und Grüne begegnen einander Koalitionspartner aber selten. Nach all den Fouls und  Misstönen  wäre es eine wohltuende Abwechslung, wenn Türkis-Grün Energie, Tagesfreizeit und Hirnschmalz in einen ernsthaften Comeback-Plan investierte.

Die To-do-Liste ist lang, Corona zeigte massive Schwächen auf. Etwa: Bei der Digitalisierung trottet Österreich anderen Staaten hinterher, in Schulen fehlt Ausstattung, im Gesundheitssystem hapert es an digitalisierten Daten. Auch deshalb läuft beim Impfen manches schief. Oder: Die Illusion, dass Österreich über eine zwar üppige, aber blendend funktionierende Verwaltung verfügt, ist nach der Pandemie nicht aufrecht zu erhalten, zu verstörend verliefen Einblicke in die Technokratenbürokratie (Stichwort: eine Lappalie wie der elektronische Impfpass braucht absurde zwölf Jahre Vorbereitung), neun verschiedene Regeln in neun Bundesländern sorgen für Zusatzwirrwarr.

Die Folgen: Bis heute gibt es keine gesicherte und einheitliche Datenlage über Intensivstationen oder Infektionen. Nicht zuletzt: Die (Langzeit-) Arbeitslosigkeit war schon vor Corona hoch, weil zu viele Menschen zu schlecht oder falsch ausgebildet sind. Mit Arbeitsminister Martin Kocher sitzt ein viel gelobter Experte in der Regierung, man  wartet gespannt auf seine konkreten Rezepte, Senkung der Steuern auf Arbeit inklusive.

An keiner dieser Langzeitbaustellen ist nur Türkis-Grün schuld – sie eröffnen der Regierung eine zweite Chance. In der Pandemie agierte die Koalition als Getriebener, nun kann, nun muss sie gestalten. Die Ausgangslage: Derzeit weist Österreich katastrophale Wirtschaftsdaten auf, derzeit drohen Milliarden-Klima-Strafzahlungen – ein  eigentlich ideales Betätigungsfeld für die Wirtschaftspartei ÖVP und die Umweltpartei Grüne. Nach dem Motto: Das Beste aus beiden Welten, zweiter Anlauf, diesmal aber wirklich. Das wäre dann ein echter Turbo – der aus mehr als Überschriften und Schlagwörtern besteht.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin