Franziska Tschinderle

Von Kabul in den Kosovo

Warum zwei kleine Balkanländer tausenden Afghanen Schutz gewähren.

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Stellen Sie sich vor, Sebastian Kurz könnte die Ankunft von Flüchtlingen aus Afghanistan gar nicht erwarten. Nicht von ein paar ausgewählten Familien, nein, von tausenden Menschen. Auf die Frage, warum er so gastfreundlich sei, antwortet er in Interviews: „Das ist für mich eine Sache der Moral.“ Und: „Es geht um Leben oder Tod.“ Kein Wort, dass sich 2015 nicht wiederholen dürfe. Warum auch? Die Situation ist eine gänzlich andere. Menschen kommen nicht zu Fuß, sondern per Flugzeug, nicht illegal, sondern als Teil eines Transit-Verfahrens, koordiniert von den USA. Botschaftsmitarbeiter, Übersetzer und Soldaten sind darunter. Menschen, denen unter den Taliban der Tod droht, weil sie für die NATO gearbeitet haben.

Stellen Sie sich vor, Außenminister Alexander Schallenberg empfängt diese Flüchtlinge persönlich am Flughafen in Schwechat. Er sagt: „Ich bin wirklich erleichtert, dass nach all den Zwischenfällen in Kabul nun das erste Kontingent angekommen ist.“ Seine Partei muss sich vor keinem Umfragetief fürchten. Ganz im Gegenteil: Auf internationaler Ebene wird den Türkisen Anerkennung gezollt. Es wäre eine Außenpolitik mit Weitblick – über Wahlen und Umfragewerte hinaus.

Dieses Szenario gibt es in Europa nicht.

Wirklich?

Albanien und Kosovo – sie zählen zu den ärmsten Ländern in Südosteuropa – sind dabei, rund 6000 Menschen aus Afghanistan aufnehmen. Auf einer Fläche, kleiner als die Schweiz. Und das, obwohl dort der Sozialstaat schwach, die Löhne niedrig und die  Jugendarbeitslosigkeit hoch sind. Gute Gründe, selbst die Flucht zu ergreifen.
In sozialen Netzwerken ist schnell ein Vergleich gefunden. Während sich die reichsten Länder Europas zieren, nehmen die Ärmsten bereitwillig Menschen auf. Stimmt das?
Ja und Nein. Die Realität wird auch romantisch verklärt. Die Menschen bleiben nicht für immer, sondern nur temporär. „Seien wir mal ehrlich“, sagte kürzlich eine Albanerin zu mir, „wer die Wahl zwischen den USA und Kosovo hat, wird sich wohl für Erstere entscheiden.“ Dazu kommt: Washington schießt Geld und die nötige Infrastruktur zu. Sprich: Es ist leichter, nur vorübergehend den Gastgeber zu spielen, insbesondere dann, wenn man nicht die ganze Rechnung bezahlen muss. All das schmälert aber nicht den Beitrag. Ganz im Gegenteil. Während sich Länder in Westeuropa bewusst hart geben, wetteifern zwei Nicht-EU-Länder, wer mehr aufnehmen kann. Das hat unterschiedliche Gründe.

Da wäre die moralisch-menschliche Dimension. Ein großer Teil der Bevölkerung weiß, wie es sich anfühlt, auf der Flucht zu sein. Im Kosovo war es mehr als die Hälfte der Bevölkerung, in Albanien waren es Hunderttausende. Sie flohen in überfüllen Booten, auf Traktoren oder kämpften sich zu Fuß über die Berge. „Vor dreißig Jahren waren wir die Afghanen“, sagte der albanische Premierminister Edi Rama kürzlich in einem Interview mit dem Fernsehsender „CNN“.

Rama, ein ehemaliger Basketballspieler, gibt dieser Tage den Mann mit dem weichen Herzen. Dieses Image verschleiert, dass er selbst kein lupenreiner Demokrat ist und sich innenpolitisch immer mehr Kritik gefallen muss. Mit der Afghanen-Frage hingegen kann Rama punkten. US-Außenminister Antony Blinken hat ihn auf Twitter bereits in den Himmel gelobt.

Womit wir bei der geopolitischen Dimension angekommen sind.

Die USA sind eine gedemütigte Weltmacht. Aber es gibt einen Ort, an der ihr noch Jubel entgegenbrandet: auf dem Balkan und hier insbesondere unter Albanern und

Albanerinnen, die – obgleich mehrheitlich muslimisch – zu den glühendsten Amerika-Fans der Welt zählen. Ihre Außen-, und Sicherheitspolitik ist – ähnlich wie jene Israels – stark an die USA angelehnt. So benennen die Albaner Straßen nach Bill Clinton und lassen das Sternenbanner vor ihren Häusern wehen. Insbesondere im Kosovo, der ohne die NATO-Bombardements von 1999 heute wohl kein Staat wäre, zollt man Washington große Dankbarkeit.

Können Staaten, deren Existenz von den USA abhängt, überhaupt Nein sagen? Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Ja. 2013 wischte NATO-Partner Albanien eine Anfrage der Amerikaner vom Tisch, syrische Chemiewaffen im eigenen Land zerstören zu lassen. Im Kosovo wiederum regiert seit Februar eine Partei, die ausländische Diplomaten noch vor wenigen Jahren mit Kolonialherren verglich. Die US-Botschaft in Pristina weigerte sich lange, deren Parteichef Albin Kurti zu treffen. Heute ist er Premierminister und lässt die Amerikaner in seinem Land bereitwillig Transitverfahren abwickeln. Das zeigt: auch kleine Staaten haben Handlungsspielräume.

In der Afghanistan-Frage ist der Balkan kein Abstellgleis. Er ist ein Tor in eine bessere Welt ohne Taliban Herrschaft und Selbstmordattentäter. Diese Männer, Frauen und Kinder werden nicht an der Adria sesshaft werden. Sie werden weiterziehen. Aber eine Erinnerung wird bleiben. Einige wenige Staaten haben im Spätsommer 2021 schnell und unbürokratisch geholfen. Um Menschen, die ihr Leben für die westlichen Alliierten aufs Spiel gesetzt haben, Schutz zu bieten.
Österreich hat nicht dazugehört.

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.