Russlands gefährlichste Waffe ist nicht nuklear
Der Krieg, der seit vier Jahren im Osten Europas tobt, hat seine Paradoxien, die für Außenstehende schwer zu begreifen sind.
Die meisten Ukrainer, die das Land gegen die russische Invasion verteidigen, sprechen Russisch. Die östlichen und südlichen Landesteile der Ukraine, vom russischen Militär bombardiert, besetzt und geplündert, sind traditionell russischsprachig.
Gleichzeitig gehören zu den zahlreichen Bedingungen, die Moskau für ein Ende des Krieges stellt, auch Forderungen, dass die Ukraine die Rechte der „russischsprachigen Bevölkerung“ respektiere und dem Russischen einen offiziellen Status verleihe.
Wo ist hier die Logik? Der gesunde Menschenverstand? Und warum zeigt sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj so unnachgiebig, wenn er erklärt: „Wir haben eine Staatssprache – Ukrainisch. Russland kann sagen, was es will… Ich glaube, diese Forderungen sind einzig dazu da, Ultimaten zu stellen und den Verhandlungsprozess zu erschweren.“
Das ist keine bloße Sturheit. Es handelt sich nicht um eine angeborene Abneigung gegen das Russische, die Sprache, die Selenskyj sein ganzes Leben lang gesprochen hat – bis zum Totalangriff auf sein Land. Es ist das Verständnis dafür, dass die Sprache von Tolstoi und Dostojewski zu einer Zeitbombe geworden ist, die das Land zu zerreißen droht.
Im Frühjahr 2014 begann Putin seinen hybriden Krieg gegen die Ukraine unter dem Vorwand, die russischsprachige Bevölkerung der Krim und des Donbass zu schützen.
Bei der Eroberung neuer Gebiete im Jahr 2022 benutzte er denselben semantischen Rammbock. Für Putin ist Sprache keine Frage der Kultur, der Linguistik oder der Anthropologie. Sie ist eine ideologische Waffe. Ihre Wirksamkeit zeigt sich in ihrer tödlichen Kraft, die Zehntausende Menschenleben kostet. Im Kern ist sie eine Massenvernichtungswaffe – und kein Regionaldialekt oder eine Minderheitensprache, wie es im Westen oft angenommen wird.
Arbeiter zerstören das Denkmal der russisch-ukrainischen Freundschaft im Jahr 2022 in Kyiv.
Wir haben keine entwickelte Filmindustrie, unsere Fernsehsender sind niedrig budgetiert, unser Buchmarkt ist geschrumpft und befindet sich in einer schwierigen Lage. Die ukrainische Kultur, über Jahre vom Zarismus und vom Kommunismus unterdrückt, ist in der Welt selten wettbewerbsfähig. Das macht uns anfällig für den gewaltigen Strom, den die Kreml-Propagandamaschine ausspuckt. Jeder ungeschützte Geist, der den endlosen Fluss der Kreml-Narrative aufnimmt, wird zum unfreiwilligen Träger feindlicher Ideologie. Es ist wie eine Pandemie, die sich über die Nation ausbreitet. Es gilt also, unsere eigene Kultur so zu stärken, dass sie gegen Infektionen resistent wird – eine schwierige, fast unmögliche Aufgabe in Kriegszeiten.
Die westliche Presse ist voller Kritik an der ukrainischen Regierung, die russisch-orthodoxe Kirchen verbietet, Denkmäler für Schriftsteller aus Sankt Petersburg und Moskau abreißt, Straßen umbenennt und russische Lieder aus dem Rundfunk verbannt. Im aufgeklärten, friedlichen und wohlhabenden Westen mag das wie eine Verletzung demokratischer Werte erscheinen. In Wirklichkeit ist es schlicht ein natürlicher Abwehrmechanismus.
Es gibt ein russisches Sprichwort: „Wenn du mit den Wölfen lebst, musst du heulen wie ein Wolf.“ Die Ukraine will weder Mitglied eines Rudels sein noch zur Beute der Wölfe werden. Deshalb sind die Forderungen, die Russlands Präsident Wladimir Putin, Außenminister Sergej Lawrow oder irgendjemand sonst in Moskau erhebt, für die Ukraine absolut inakzeptabel.
Die Sprache selbst ist dabei nicht das Problem. Millionen Ukrainer sprechen weiterhin Russisch, und ich kenne keinen einzigen Fall administrativer Verfolgung deswegen. Es geht nicht um Linguistik, sondern um Bedeutung. Die russische Propaganda sät Feindseligkeit, Hass und Lügen. Und viele Ukrainer können die Sprache des Aggressors einfach nicht mehr hören. Die Ukraine verteidigt sich nicht nur an der militärischen, sondern auch an der kulturellen Front.
Vor der Invasion der „Russischen Welt“ in meiner Heimatregion Donbass sprach ich nie Ukrainisch. Danach hat sich das radikal verändert.
Nachdem ich mich in Kyjiw niedergelassen hatte, verbrachte ich ein bis zwei Jahre in einem mentalen Zwiespalt, lernte nicht nur anders zu sprechen, sondern auch anders zu denken. Ich war nicht mehr in der Lage, russische Bücher zu lesen oder russische Filme zu schauen. Sie trugen einen Ton von Chauvinismus und Arroganz, der unerträglich geworden war. Es war, als ob ein Russe in der Zeit des Nationalsozialismus Nietzsche läse: Schon ein einziger Satz über die „blonde Bestie“ oder den „Übermenschen“, so brillant er auch sein mochte, hätte genügt, um Abscheu gegenüber Nietzsches gesamtem Werk zu empfinden.
Warum sollte Putins Aggression eine andere Wirkung haben?
Am Vorabend des großangelegten Krieges waren etwa fünfzig Prozent der Bevölkerung russischsprachig. Heute ist diese Zahl um die Hälfte gesunken.
Putin, der den Plan hegte, die „Russische Welt“ in die östlichen und südlichen Regionen der Ukraine zu übertragen, hat ein ideologisches Fiasko erlitten. Er ist sich dessen inzwischen bewusst, das zeigen die brutalen Angriffe auf Städte, deren Straßen noch immer die Namen von Tschaikowski, Puschkin und Tschechow tragen. Moskau umwirbt die Russischsprachigen nicht mehr. Es tötet sie.
Am 1. September begann in Kyjiw das neue Schuljahr, und während eines morgendlichen Spaziergangs hörte ich Gesprächsfetzen zwischen Kindern und ihren Eltern. Einer davon hat sich mir eingeprägt. Eine Mutter bat ihre kleine Tochter, heute besonders vorsichtig zu sein, weil „die Russen an Feiertagen immer Raketen abfeuern“.
Wissen Sie, was die Erstklässlerin antwortete? „Ich weiß“, sagte sie leise.
Tatsächlich verbrachten die ukrainischen Schulkinder den Tag in Luftschutzkellern. Sie wissen und verstehen alles – ganz gleich, welche Sprache sie benutzen.
Zur Person
Geboren 1980, floh er im Jahr 2014 aus dem von Russland besetzten Donezk nach Kyiv, von wo aus er für Medien wie die „New York Times“, den britischen „Guardian“ und das „Zeit Magazin“ arbeitet. Seit Jahrzehnten befasst sich Maidukov mit den politischen Kräften, welche die Ukraine prägen. Zuletzt erschienen die Bücher „Life on the Run: One Family's Search for Peace in War-torn Ukraine“ und „Deadly Bonds: Five Years Inside The Ukrainian Mafia“.