Georg Hoffmann-Ostenhof

Georg Hoffmann-Ostenhof Der florierende Holländer

Der florierende Holländer

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Als Kollege Robert Treichler im vergangenen März nach Amsterdam fuhr, um mit Geert Wilders eines von dessen seltenen Interviews zu führen, da glaubte man zu wissen: Der Mann, der den Koran wie Hitlers „Mein Kampf“ verbieten will und mit seinen Hasstiraden gegen Moslems sowohl das Publikum unterhält als auch die Gerichte beschäftigt, würde bei den Parlamentswahlen am 9. Juni triumphieren. Seine Partei der Freiheit sollte die stärkste Kraft des Landes werden, diagnostizierten die Umfrageinstitute unisono. Und die internationale Öffentlichkeit nahm die Performance des niederländischen H. C. Strache zum Anlass, sich ernsthafte Sorgen über den unaufhaltsamen Aufstieg des Rechtspopulismus in Europa zu machen.
Das war vor knapp drei Monaten. Ein kurzer Holland-Trip vergangene Woche war beruhigend.

Noch immer zieht der Mann mit eng geschnittenem Anzug und Hansi-Hinterseer-gelbem Haar über die kriminelle marokkanische und türkische Jugend her, verspottet die von vielen moslemischen Frauen getragenen Kopftücher als „kopvodden“ (Kopffetzen), die es zu besteuern gelte, und rechnet vor, wie man mit einem Stopp der Migration den Staatshaushalt sanieren könne. Er erntete Standing Ovations, als er vergangenen Mittwoch in einer Bowlinghalle einer Haager Vorstadt vor Getreuen seinen Machtanspruch bekräftigte. Und er kann nach wie vor mit einem guten Abschneiden rechnen – manche Umfragen sagen ihm eine Verdoppelung seiner Mandate von neun auf 18 (von insgesamt 150 Parlamentssitzen) voraus. Der Star der niederländischen Politik ist er aber nicht mehr. Dass seine Partei die stärkste Fraktion im Haager Abgeordnetenhaus stellen wird – davon ist keine Rede mehr.

In Hollands Politik geht alles sehr schnell. Nach dem Wilders-Hype schien jäh der frisch gekürte sozialdemokratische Parteichef der aufsteigende Politstern zu werden. Der ehemalige Amsterdamer Bürgermeister Job Cohen, der mit seiner aktiven Integrationspolitik in der niederländischen Hauptstadt erfolgreich war und sich allgemein großer Beliebtheit erfreut, gibt sich geradezu als Kontrastprogramm zum Rechtspopulismus des Geert Wilders. Aber gerade das ließ ihn zuletzt auch wieder abstürzen. Denn das Thema, das den Sozialdemokraten und den Rechtspopulisten zunächst stark gemacht hatte und bei dem die beiden polarisierten und mobilisierten, verlor in den Augen der Leute an Gewicht: Inmitten der europäischen Finanzkrise, die auch die Niederlande erfasst hat, büßt das Ausländerthema an Brisanz ein und treten die ökonomischen Fragen naturgemäß in den Vordergrund.

Ein Dritter kann sich freuen: Der eher uncharismatische Mark Rutte, Chef der rechtsliberalen VVD, wird mit Sicherheit als großer Gewinner aus den kommenden Wahlen hervorgehen und mit seiner Partei die stärkste Fraktion stellen. Er wird eine Koalitionsregierung bilden. Darüber sind sich alle Meinungsforscher einig. Und das ist eine kleine Revolution. Seit 1914 hat es keinen liberalen Premier in Den Haag gegeben. So weit zur aktuellen Politik dieses kleinen europäischen Landes, die, für sich genommen, nur von mäßigem ­Interesse wäre. Aber sie bietet für andere Länder nicht zu ­unterschätzende Anregungen und Lehren.

Mit Rutte wird jener Mann siegen, der in aller Brutalität sagt, wo eine von ihm geführte Regierung sparen, wo er den Wählern was und wie viel wegnehmen wird. „Die anderen würden oder werden, wenn sie an die Macht kommen, ähnlich agieren wie Rutte, nur trauen sie sich den Wählern nicht zu sagen, was sie vorhaben“, analysiert Paul Scheffer, ein prominenter Politikwissenschafter. „Das ist Ruttes Stärke.“ Da stellt sich die Frage: Ist es eine Spezialität der nüchternen und pragmatischen Niederländer, dass sie die Ehrlichkeit eines Politikers nicht nur ertragen, sondern diese sogar in ihrer ganzen Unerbittlichkeit honorieren? Oder aber wäre das demonstrative Nicht-Lügen ein Erfolgsrezept auch etwa für österreichische Politiker?

Wirklich faszinierend ist vor allem die große Beweglichkeit der niederländischen Politik. Grundlage dafür ist ein extremes Verhältniswahlrecht: Das ganze Land ist ein Wahlkreis, die Hürde, über die eine Partei springen muss, um ins Abgeordnetenhaus einziehen zu können, liegt bei 0,69 Prozent der Stimmen. Entsprechend bunt ist das Parlament. In ihm sitzen neun Parteien, die das gesamte politische Spektrum abdecken – zehn Prozent der Abgeordneten haben übrigens einen Migrationshintergrund. Jede politische Schattierung, von linkssozialistisch, linksliberal und grün bis zu rechtsliberal, christlich-fundamentalistisch und rechtspopulistisch, kann ins Parlament gewählt werden – aus ideologischen Motiven heraus, gemäß individuellen Interessen oder aber auch mit taktischem Kalkül. Denn jede Regierung wird seit Langem von einer Koalition von mindestens drei Parteien gebildet.

Politische Kompromissbildungen werden als ganz normal und nicht wie bei uns von vornherein als Verrat oder Schwäche empfunden. Das System ermuntert, neue Parteien zu gründen. Bisher ist dieses sehr reiche, wohlorganisierte und liberale europäische Land gut damit gefahren. Und gerade in Umbruchszeiten wie diesen, in denen die alten Lagerbindungen weitgehend verschwinden, erweist sich die holländische Politik als überaus adäquat: dynamisch und innovationsfreudig.

Um es klar zu sagen: Meine Niederlande-Reise hat mich in meiner Ablehnung aller Versuche bestätigt, in Österreich ein Mehrheitswahlrecht einzuführen. Das würde die blockierte politische Situation hierzulande nur perpetuieren und weiter verfestigen. Jede Annäherung an das radikale holländische Proportionalmodell wäre jedoch angetan, die politische Verkrustung ein wenig aufzubrechen und Bewegung in die politische Landschaft Österreichs zu bringen. Und das wäre bekanntlich dringend vonnöten.

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Georg Hoffmann-Ostenhof