Verstörung
Jahrzehntelang gab es für uns Europäer Frieden und Sicherheit zum Günstigtarif. Jetzt stellen die USA auf höchster politischer Ebene den Kern der transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft offen infrage. Das ist präzedenzlos. Was gelten mehr als acht Jahrzehnte Bündnistreue noch? Trump, der Erratiker, bittet die Europäer zur Kasse für Zukunft und Vergangenes. Die US-Regierung greift explizit in Europas Innenpolitik ein, sie unterstützt europafeindliche und russlandfreundliche Parteien. In der Manier eines Kolonialherrn stellt Trump Gebietsansprüche auf dem amerikanischen Kontinent und darüber hinaus.
Das Ende der transatlantischen Vertrautheit trifft die Europäer wie ein Nackenschlag. Noch haben sie kein rasch wirksames Rezept, mit ihrem Rauswurf aus dem komfortablen sicherheitspolitischen „Hotel Mama“ umzugehen.
Im Osten konfrontiert Putins Überfall auf die Ukraine die Europäer mit noch ernüchternderen Perspektiven: Nach drei Jahren ist kein Ende des verheerenden Angriffskrieges in Sicht, da hilft kein Wunschdenken. Der neoimperialistische Revanchist Putin verlangt Kapitulation, nicht Frieden. Im Rücken die CRINK (China, Russland, Iran, Nordkorea) als neue autoritäre Achse der Macht.
Vom gewichtigsten Unterstützer der Ukraine sind die USA zum Unsicherheitsfaktor geworden. Trump wechselt die Seiten: Sein Partner ist jetzt der Angreifer Putin. Die Normalisierung der Geschäftsbeziehungen zu Moskau hat wohl Vorrang. Noch vor dem Beginn von Verhandlungen über einen Waffenstillstand diktiert der amerikanische Präsident Kyiv die Wunschliste des Kremls. Präsident Selenskyjs Demütigung vor laufenden Kameras im Oval Office und die ruchlose Opfer-Täter-Umkehr hat das Vertrauen in die „Führungsmacht der freien Welt“ erschüttert, wenn nicht gar zerstört. Sind Völkerrecht, Solidarität und Multilateralismus tatsächlich Lachnummern aus der Welt von gestern?
Die Botschaft des neuen Washington für Europa und die Welt: Was heute der Ukraine passiert, kann morgen jedem passieren. Auf engste Partner ist kein Verlass mehr. Der Krieg feiert ein Comeback. Gewalt lohnt sich. Gröbste Attacken auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gehören jetzt zum Tagesgeschäft. Wie auch Drohungen, Denunziation, Erpressung und Zollkriege.
Uns Europäern wird täglich vor Augen geführt, dass wir keine Entscheidungsmacht haben über unsere eigene Sicherheit und den Frieden auf dem Kontinent. Nicht einmal ein Mitspracherecht. Über unsere Köpfe hinweg „verhandeln“ die USA und Russland die Zukunft eines souveränen Staates und der europäischen Sicherheitsarchitektur. Die Ukraine und ihre europäischen Unterstützer haben es immer noch nicht an einen Verhandlungstisch mit der bisherigen Schutzmacht und dem Angreifer geschafft. Dabei böte die OSZE in Wien genau dieses Format.
Ist Jalta doch noch nicht – wie geglaubt – in den Geschichtsbüchern gelandet? Wird die Ukraine morgen zwischen Trump und Putin aufgeteilt und ausgeplündert? Werden zwei Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates Grenzen und Einflusszonen in Europa handstreichartig festlegen? Entgegen elementarstem Recht? Wird im Jahr 2025 Istanbul, Riad oder Doha das Jalta von 1945?
Wir alle, Österreicher und Europäer, müssen schleunigst unser Schicksal in die Hände nehmen, wenn wir kein Spielball unberechenbarer Mächte sein wollen. In aller Nüchternheit ist aufzuzeigen, was die Russlandversteher unter uns eigentlich vorhaben. Nämlich nicht mehr und nicht weniger als die Zerstörung unserer Freiheit und Selbstbestimmtheit. Aber auch diejenigen, die sich in vorauseilendem Gehorsam der neuen US-Linie unterwerfen, indem sie mühsam Errungenes wie Gleichberechtigung und mehr Diversität wieder abdrehen, arbeiten am selben Ziel. Die Rolle rückwärts ist es, die Putin und Trump verbindet. „Ein bisschen autoritär ist gut für die Wirtschaft“, hört man nicht selten bei uns. Der Denkfehler: „Ein bisschen autoritär“, das gibt es nicht. So wenig wie „ein bisschen schwanger“. Freiheit ist unteilbar wie die Menschenwürde. Diese Erfahrung aus unserer Geschichte – wo nötig – auch der Jugend zu vermitteln, ist unsere Verantwortung als Nutznießer der Friedensdividende. Wir dürfen uns nicht willenlos der Verstörung hingeben.
Wenn alle anderen Selbstverständlichkeiten zu verschwinden drohen, verbindet uns doch die Gewissheit, weder amerikanischer noch russischer Befehlsempfänger sein zu wollen. Zum 80. Geburtstag der Republik dürfen wir Österreicher uns nicht ablenken lassen von der Notwendigkeit eines aktiven Mitwirkens an der Selbstbehauptung Europas. Denn darum geht es heute: gemeinsam das weltweit einzigartige europäische Lebensmodell von Freiheit, Demokratie, Solidarität, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Gerechtigkeit zu schützen und zu bewahren.